Soehne & Liebe der Nacht
die in Sekunden lebendig wurde. Ein vertrauter Duft von Lavendel schlug ihr entgegen. Großmutter Melinda sagte immer, Lavendel hält das Böse fern. Nach Dianas Tod glaubte Lara nicht mehr daran, obwohl sie dieser Duft bis heute begleitete.
Im Erdgeschoss gab es fünf Zimmer, die jeweils über die große Diele erreichbar waren. Lara lief langsam vorbei an Familienfotos zu der Stube ihrer Großmutter. Ein Teppich lag auf dem Holzboden, das Sofa hatte sie
mit Kissen überhäuft, davor stand ein runder Holztisch, auf dem noch immer Großmutter Melindas Strickzeug lag. An den Wänden hingen Engelsbilder, die das Gefühl von Unsterblichkeit und Sicherheit verströmten. Nur an einem Samstag vor drei Monaten hatten sie ihre Großmutter im Stich gelassen. Auf dem grünen Teppich hatte Lara sie gefunden. Sofort hatte sie einen Notarzt gerufen. Lara sah alles wieder vor sich, ihre leblose Großmutter, den Arzt, der versuchte, sie wiederzubeleben und schließlich ohne jede Gefühlsregung aufgab.
Lara löste ihren Blick vom Teppich, auf dem das Ende ihrer Großmutter geschrieben stand. Sie trat zurück in die Diele und sah zur Küchentür hinüber. Lara sah sich als Achtjährige dort stehen, barfüßig und an der Tür lauschend. Sie hörte wieder die Stimmen, die aus der angelehnten Küchentür gedrungen waren. Lara hatte das Gefühl, die Stimmen der Vergangenheit heute deutlicher zu hören als damals.
Ein Mann hatte gesagt: „Die Söhne der Nacht sind gefährlich, sie kennen keine Liebe, nur den Kampf um die Auferstehung ihres Schöpfers.“
Ihre Schwester hatte sich gewehrt: „Henry ist anders, er wird sein Leben ändern!“
Dann hatte Lara die verzweifelte Stimme ihrer Großmutter gehört: „Diana, sei vernünftig. Höre auf Gabriel, er kann dich beschützen.“
Diana hatte weinend geschrien: „Ich lasse mir mein Leben nicht vorschreiben. Ich liebe Henry!“
Lara hatte Sicherheit hinter einer Truhe gesucht, als ein Küchenstuhl umgeworfen wurde. Kurz darauf war Diana weinend aus dem Haus gelaufen.
Laras Augen blieben an der Wendeltreppe zur oberen Etage hängen. Würde ihr Mut ausreichen, sich der Wahrheit zu stellen, die dort oben auf sie wartete? Langsam ging sie zur Treppe hinüber. Sie kämpfte um einen ruhigen Herzschlag, denn er fühlte sich an wie ein gefangenes Tier, das in die Freiheit wollte. Zögernd nahm sie eine Stufe nach der anderen und jede war wie ein Stich ins Herz. Das Atmen fiel ihr schwer, als sie vor der Tür des Schicksals ankam. Mit dem Öffnen dieser Tür würde ein jahrelanger Traum in Sekundenschnelle sterben. Was die Vernunft wusste, lebte in Laras Unterbewusstsein. Ihre Gefühle verdrängten die Wahrheit, sie lebten mit Diana in einer anderen Zeit.
Lara rief sich die vergrabene Erinnerung an die Beerdigung ihrer Schwester wach. Sie hatte an der Hand ihrer Großmutter an einem ausgehobenen Grab gestanden, neben dem ein Holzsarg, geschmückt mit weißen Orchideen, das Ende eines Lebens verkündete.
Die anderen Trauergäste hatten sich zugeflüstert: „So eine schöne Frau, warum musste sie so jung sterben?“ Völlig unwirklich für Lara wurde der Sarg in die Tiefe gelassen; das hatten vier stämmige Männer übernommen. Lara konnte nicht einmal weinen, für sie war ihre Schwester nicht eingesperrt in ein letztes Zuhause aus Eichenholz. Für sie war ihre Schwester nur aus dem Haus gelaufen und hatte vergessen zurückzukommen.
Wieder zu Hause war Lara zum Zimmer ihrer Schwester gelaufen, dort hatte sie mit ihrer Seele einen Pakt geschlossen: Solange diese Tür verschlossen blieb, lebte Diana dahinter weiter. Wenn Lara diese Tür je öffnete, wäre es endgültig. Diana wäre fort und mit ihr die Fantasie, die sich Lara geschaffen hatte, um den Schmerz über den Verlust ihrer Schwester ertragen zu können. Auch ihre Großmutter hatte ihr diese Hoffnung nie genommen, auch sie hatte diese Tür nie mehr geöffnet. Sie hatte Laras Traum nie zerstört und nie darüber gesprochen, warum Diana so jung gestorben war.
Lara legte zögernd die Hand auf den Türgriff und drückte ihn herunter. Sie schloss die Augen und schob die Tür zur Vergangenheit auf. Ein Schritt in dieses Zimmer, unverändert seit zwanzig Jahren, unverändert seit dem Tod ihrer .Schwester, stand bevor. Ein muffiger Geruch schlug Lara entgegen. Sie öffnete vorsichtig die Augen, die Wirklichkeit hatte sich in dicken Staubschichten über jeden Millimeter im Raum gelegt.
Als Kind hatte Lara hier viel Zeit bei Diana
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