Soehne & Liebe der Nacht
verbracht. Sie hatte es geliebt, Diana zuzusehen, wie sie sich an ihrem Schminktisch am Fenster geschminkt und frisiert hatte. Immer wollte Lara so schön sein wie ihre Schwester. Heute war sie ihr Spiegelbild, sie hatte gespürt, dass es ihrer Großmutter manchmal schwer gefallen war, sie anzusehen.
Lara übertrat die Türschwelle und ging auf ein undurchsichtiges Fenster zu, um es zu öffnen. Warme Luft drang ins Zimmer, die Gegenwart vermischte sich mit dem Gestern. Als Lara sich umdrehte, fiel ihr Blick auf einen schwarzen Lederkoffer, der neben dem Kleiderschrank stand. Lara überkam das ungute Gefühl, dass dieser Koffer ihr eine Geschichte erzählen könnte, die sie nicht hören wollte. Für sie war ihre Schwester so perfekt wie eine Göttin gewesen. Nichts und niemand hätte dieses unerschütterliche Bild zerstören können, nie hätte Diana sie verlassen. Die Erinnerung an den letzten Tag mit Diana war nach wie vor in Lara lebendig.
Die Sonne brannte damals heiß und Diana hatte ein dünnes blaues Kleid getragen, sie hatte ausgesehen wie ein Stück vom Himmel. Den ganzen Tag hatte Diana glücklich gelächelt. Sie hatte Lara die Haare frisiert wie ihre eigenen, sie hatte ihr sogar etwas roten Lippenstift aufgetragen. Damals war Lara sicher gewesen, dass die Welt ewig aus Diana, ihrer Großmutter und dem Sonnenschein bestehen würde.
Am Abend hatte Diana sie ins Bett gebracht und gesagt: „Morgen fängt ein ganz neues Leben für uns an“, dann hatte sie ihr durchs Haar gestreichelt, ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben und war gegangen. Später am Abend hatte Lara die lauten Stimmen wahrgenommen, die aus der Küche im Erdgeschoss zu ihr hoch ins Schlafzimmer gedrungen waren und den Anfang vom Ende verkündet hatten.
Lara sah sich im Zimmer um. Alles sah aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Auch Dianas Zimmer schmückten Engelsbilder. Ihre Großmutter hatte darauf bestanden, dass sie in jedem Zimmer Platz fanden. Auf dem runden Glastisch lag das Buch, das Lara so liebte: Aschenputtel. Daraus hatte ihr Diana oft vorgelesen und Lara hatte sich gewünscht, dass ein Prinz auch sie finden würde, wenn sie groß wäre.
Wieder fiel ihr Blick auf den Koffer. Mit einem tiefen Atemzug ging sie auf ihn zu und kniete nieder. Behutsam wischte Lara den Staub vom Deckel und mit dem Staub verschwand das Bild einer heilen Welt. Ihr Herz klopfte heftig, als sie den Deckel öffnete. Auf zusammengelegter Kleidung lag ein herzförmiger Bilderrahmen, der ein Foto von ihr und Diana zeigte, und ein Tagebuch, von dessen Umschlag ein Engel lächelte. Behutsam nahm Lara es in die Hand. Zögernd erhob sie sich, um sich der Realität zu stellen. Das Traumbild, das Lara von ihrer Schwester hatte, würde dem Bild einer realen Frau weichen, die Erwartungen und Wünsche an ihr Leben hätte, von denen Lara nichts geahnt hatte. Wehmut überfiel Lara. Sie setzte sich auf das Sofa und schlug das Tagebuch auf. Da fiel ihr Blick auf einen Briefumschlag, auf dem ihr Name stand.
15
Cara beobachtete den Schöpfer, der in Gedanken versunken auf seinem Schlaflager saß. Wie würde er reagieren, wenn sie ihm die Täuschung offenbarte, mit der sie ihm begegnet war? Cara hatte Laras Aussehen angenommen und die Kälte der Hölle in ihre Augen gelegt, damit es Ewan nicht gelang, die unendliche Liebe darin zu sehen, die sie für ihn empfand. In Caras Kopf erwachten wieder die alten Bilder. Die heimlichen Treffen mit Ewan, die sanften Berührungen, mit denen seine Hände ihren Körper verwöhnten, die leidenschaftlichen Küsse zwischen den Rosensträuchern und schließlich der tragische Moment, in dem ihr gemeinsames Glück zerbrach. Ihr Vater war außer sich vor Zorn gewesen, weil sie, die Tochter des Herrschers, einen Mann liebte, der nichts weiter war als ein Diener in seinem Schloss. Cara wäre Ewan in jede Hölle gefolgt, aber auch sie war der Wut ihres Vaters nicht entkommen. Auch sie hatte die letzten zweitausend Jahre in Einsamkeit verbracht, im Herzen das unzerstörbare Bild des Mannes, den sie nicht lieben durfte. Aber auch zweitausend Jahre konnten die Liebe nicht töten, die sie für Ewan empfand.
Im Rosengarten hatte sie Ewan zum ersten Mal gesehen. Versunken in den Duft einer Rose, schien er in einer anderen Welt zu sein.
„Wie ist ihr Name?“, sprach sie ihn damals an.
„Ihr Name?“
„Der Name der Frau, an die du gerade denkst.“
Ewan hatte ihr tief in die Augen gesehen. „Diese Frau ist gerade Wirklichkeit
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