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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Ständig fiel er vornüber zwischen die Buchseiten und stieß sich Nase und Stirn. Er war ein Monstrum! Ein Monstrum, das bei Anstrengung schrumpfte und wuchs, wenn es las. Er hatte sich in eine Allegorie seiner selbst verwandelt.
    Zur Beruhigung las er Kapitel um Kapitel, dachte über die Auswirkungen der Pest in London nachund stellte sich einzelne besonders eindrucksvolle Szenen mit geschlossenen Augen vor.
    Vielleicht half das Lesen gar nichts mehr, vielleicht musste er so bleiben: Eine absurde Gliederpuppe mit riesigem Kopf, im Grunde nur ein Kopf, der sich von allen Zudringlichkeiten seines grausamen Schicksals mit Büchern und ähnlichem Blödsinn ablenkte. Unterdessen ging sein Sohn vor die Hunde, wurde langsam zerfleischt von den offenen Stellen in seiner Lunge. Armes Kind. Er weinte ins Buch.
    Templ konzentrierte sich darauf zu lesen. Dazu musste er seinen Kopf auf die winzigen Knie stützen, die ihm geblieben waren. Er schaffte es irgendwie, sich zu stabilisieren, dann zwang er seinen Blick, der ihm vor Aufregung ständig abgleiten wollte, starr auf der Buchseite zu bleiben.
    Fast genau zur selben Zeit ging ich hinaus in die Felder nahe von Bow. Ich hatte großes Verlangen zu sehen, wie man dort zurechtkam, am Fluss und bei den Schiffen; und da ich ein wenig Bescheid wusste in der Schifffahrt, dachte ich, dass sich auf ein Schiff zurückzuziehen
    Bisschen oft »Schiff« … Schifffahrt, drei f … wie hässlich … als hätte man den Finger zu lange auf der Taste –
    und da ich ein wenig Bescheid wusste in der Schifffahrt, dachte ich, dass sich auf ein Schiff zurückzuziehen bestimmt eine der besten Möglichkeiten wäre, sich vor einer Infektion zu schützen. Und während ich darüber nachgrübelte, verließ ich dieFelder von Bow in Richtung Bromley, und ging hinunter zu Blackwall, zu den Kaistufen, die als Anlegestelle dienen.
    Hier sah ich einen armen Mann, der am Ufer – der Sea-Wall, wie man es auch nannte – ganz allein entlang spazierte. Ich ging eine Weile ebenfalls umher, alle Häuser waren verbarrikadiert. Dann begann ich ein Gespräch mit dem armen Mann, aus einer gewissen Distanz. Zuerst fragte ich ihn, wie die Leute sich hier hielten. »Ach, Sir!«, antwortete er, »fast hoffnungslos; alle tot oder krank. Es gibt hier nur mehr sehr wenige Familien in diesem Stadtteil, oder in diesem Dorf« – er zeigte nach Poplar – »wo fast die Hälfte der Leute schon tot ist und der Rest krank.«
    Templ schnaufte vor Anstrengung. Der Kopf fiel ihm zwischen den Knien durch und schlug auf der Buchseite auf. Sein Körper knickte in der Mitte um. Er entfaltete sich mühsam – er war so kraftlos und gleichzeitig so weich und biegsam – und rang nach Luft.
    Er betrachtete seine Hände. Sie schienen ihm ein wenig gewachsen. Seine Knie waren größer geworden, vielleicht waren sie aber nur geschwollen. Er musste durchhalten, sonst würde man ihn irgendwann so antreffen, einen Zwerg aus einem finsteren Märchen.
    Dann deutete er auf ein Haus. »Hier sind alle tot«, sagte er –
    Er hatte nicht mitgedacht, die Zeile war leer durch seine Augen gegangen. Noch einmal:
    Dann deutete er auf ein Haus. »Hier sind alle tot«, sagte er, »und das Haus steht offen; niemand traut sich hineinzugehen. Ein armer Dieb«, sagte er, »ist eingebrochen, um etwas zu stehlen, aber er hat schwer bezahlen müssen für seinen Diebstahl; letzte Nacht wurde er auf den Kirchhof getragen.« Dann deutete er auf einige andere Häuser. »Dort«, sagte er, »sind alle tot, der Mann und seine Frau und fünf Kinder. Und da«, sagte er, »sind sie eingeschlossen.
    Man sieht den Wächter an der Tür.« Ähnliches erzählte er von anderen Häusern. »Aber«, sagte ich, »was machst du hier, ganz allein?« »Nun«, sagte er, »ich bin ein armer, verzweifelter Mann; es hat Gott gefallen, mich bis jetzt zu verschonen, obwohl meine Familie krank ist und eins der Kinder schon tot.« »Warum glaubst du«, fragte ich, »dass du verschont geblieben bist?« »Naja«, sagte er, »das da ist mein Haus«, und er zeigte auf ein sehr kleines Bretterhäuschen, »und da leben meine arme Frau und meine zwei Kinder – wenn man es überhaupt leben nennen will, denn meine Frau und eins der Kinder sind krank, und ich gehe nicht mehr zu ihnen.« Bei diesem Wort sah ich, dass Tränen über sein Gesicht liefen; und auch bei mir liefen sie, das kann ich versichern.
    Endlich fand er ein wenig in die Stimmung und Aussagekraft der Geschichte. Der Schrecken der

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