Söhne und Planeten
Überlebenden. Sie schämen sich ihrer Stärke, sie hadern mit Gott über die nicht eingelösten Gesetze der Symmetrie und der Gleichverteilung.
Es hat Gott gefallen, mich bis jetzt zu verschonen
. Es gefällt ihm, es gereicht ihm zu Gefallen … ihm, der mit den Menschen anstellen kann, was er will, so lange,bis sie irgendwann nicht mehr an ihn glauben. Dann sterben sie und werden zu Gras, das immer wieder nachwächst. Ironie.
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»Aber«, sagte ich, »warum gehst du nicht mehr zu ihnen? Wie kannst du dich von deinem eigenen Fleisch und Blut abwenden?« »Oh, Sir«, sagte er, »Gott verhüte! Ich wende mich nicht von ihnen ab; ich tue für sie, was ich kann. Und außerdem – gelobt sei der Herr – verhindere ich, dass sie Not leiden.« Dabei richtete er seine Augen gen Himmel mit einem Ausdruck, der mir versicherte, dass er nicht übertreibe, sondern dass ich einen ernsthaften, religiösen, braven Mann getroffen hatte und dass sein Ausruf wahrhaftig ein Zeichen von Dankbarkeit war, dass er, trotz der Situation, in der er sich befand, sagen konnte, seine Familie leide keine Not. »In Ordnung«, sagte ich, »ehrlicher Mann, das ist eine große Gnade für die Armen. Aber wie lebst du selbst, und wie kommt es, dass du verschont geblieben bist vom schrecklichen Unheil, das uns alle bedrängt?« »Ich bin ein Fährmann«, sagte er, »das da ist mein Boot. Und dieses Boot dient mir als Haus. Ich arbeite auf ihm am Tag, und in der Nacht schlafe ich darin; und was ich für meine Arbeit bekomme, lege ich auf diesen Stein.« Und er zeigte mir einen breiten Stein auf der anderen Straßenseite, etwas entfernt von seinem Haus. »Und dann«, sagte er, »schreie und rufe ich nach ihnen, bis sie mich hören, und dann kommen sie und nehmen es.«
»Aber mein Freund«, sagte ich, »wie kannst du überhaupt noch Geld verdienen als Fährmann?Nimmt denn noch irgendjemand in diesen Zeiten deine Dienste in Anspruch?« »Jawohl, Sir«, sagte er, »auf meine Art bekomme ich Kundschaft. Sehen Sie dort drüben – fünf Schiffe liegen da vor Anker« – und er deutete den Fluss hinunter, kurz unterhalb der Stadt – »und da oben sind es acht oder zehn, die dort an der Kette oder vor Anker liegen. Alle diese Schiffe haben Familien an Bord, von Händlern und Besitzern und ähnlichen Leuten, und die haben sich selbst dort eingesperrt und leben auf den Schiffen, gut beschützt, aus Angst vor Ansteckung. Und ich kümmere mich um sie und bringe ihnen Sachen, übermittle Briefe und erledige für sie das Allernotwendigste, sodass sie nicht gezwungen sind, an Land zu gehen. Und jede Nacht mache ich mein Boot an einem der Schiffe fest, und dann schlafe ich dort, ganz allein, und auf diese Weise, Gott sei Dank, bin ich bis jetzt verschont geblieben.«
Sein Blick hielt. Er starrte auf den gelesenen Absatz. Er versuchte, sich zu konzentrieren, sich auf den Inhalt des Abschnitts zu besinnen, aber er konnte nicht mehr sagen, wovon er handelte. Es half alles nichts, er musste ihn noch einmal durchlesen. Großer Gott, bitte, nein … Verzweiflung drängte von innen gegen seine Zunge und machte sie schwer. Zwinkernd betrachtete er den Absatz, der leer durch sein Gedächtnis gegangen war. So viele Wörter. Es würde eine Ewigkeit dauern, bis er den Sinn des Gelesenen verstanden haben würde. Dazu diese Schmerzen im Nacken! Hinterhältige, entwürdigende Schmerzen.
Wenn er die Augen zusammenkniff, wurde aus dem Absatz ein grauer Monolith. Ein Block, überschau-barund weniger Angst einflößend. Der Anblick tat ihm wohl.
Aber es half nichts, er musste ihn noch einmal lesen. Er musste den Sinn verstehen, sonst funktionierte es nicht. Er würde jedes Wort einzeln lesen, jeden Satz aufnehmen. Er würde, auch wenn es derselbe Absatz wäre, noch einmal derselbe Teppich aus Wörtern und damit verbunden das lästige Gefühl von
déjà-vu
in seinem ungeduldigen Nacken – er würde trotz allem so tun, als läse er etwas Neues. Nur so würde es funktionieren. Nur so konnte er sich selbst und seinen Mangel an Aufmerksamkeit bestrafen. Es blieb ihm nichts anderes übrig.
»Aber«, sagte ich, »warum gehst du nicht mehr zu ihnen? Wie kannst du dich von deinem eigenen Fleisch und Blut abwenden?« »Oh, Sir«, sagte er, »Gott verhüte! Ich wende mich nicht von ihnen ab; ich tue für sie, was ich kann. Und außerdem – gelobt sei der Herr – verhindere ich, dass sie Not leiden.« Dabei richtete er seine Augen gen Himmel mit einem Ausdruck, der mir versicherte,
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