Söhne und Planeten

Wasser! Ich werde alt, unendlich alt. Mein Leben hängt am seidenen Faden und mir bleibt, bei aller Ironie, tatsächlich nur mehr, die hilflose Kinderbitte an das mich zermalmende Sonnensystem zu richten, die in dem Satz enthalten ist, den Isaak Babel noch stammeln durfte, bevor man ihn ermordete:
Sie lassen mich mein Werk nicht beenden!
    Was erzähle ich dir? Du kennst ja die Liste meiner Veröffentlichungen.
    Wann, im Übrigen, wird der Schmerz endlich aufhören …?
    quoth the Raven
…
    Die Edition der »Fragen« geht mühsam voran. Hier noch ein Nest von Fehlern, das ich entdeckt habe:
    »Was wissen wir über diese unüberblickbare Schar schnatternder Lebewesen, die sich, wenn sie nicht anders können, ineinander verbeißen und sich gegenseitig die Kleider vom Leib zerren? Was unterscheidet ein hochbegabtes Kind in unserer Zeit noch von einem untergehenden Kaiserreich? Wie kann ein Meister vom Himmel fallen und sich trotzdem noch daran erinnern, wie man fliegt? Wie lange noch werden die Väter ihren Söhnen die Funktionsweisedes menschlichen Brustkorbs erklären anhand eines Spielzeug-Xylophons? Warum wird das Kind nicht gefördert , trotz seines Intelligenzquotienten von 145? Hat es keine Aufmerksamkeiten verdient, in Form von Suggestivfragen und Magnetpuzzlesteinen?«
    (
Buch der Fragen
, S. 11)
    Karl
    An Herrn
    Karl Senegger
    Liebster Karl,
    vielen Dank für die neue Korrektur. Du hattest Recht, bei mir stand tatsächlich »gefordert« anstatt »gefördert«.
    Dein H.
    An Herrn
    Heribert Wolf
    Helian-Verlag
    Lieber Wolf!
    Schön, dass meine Korrekturen gut angekommen sind. Mauser ist, so will es mir scheinen, am Ende. Mein Gott, stundenlang haben wir uns mit ihm unterhaltenmüssen, dem Verzweifelten. Es ist mir unbegreiflich, wie man so lange mit einem Menschen zusammenleben kann, ohne ihm zu sagen, dass man ihn liebt.
    Er habe es nie getan, behauptet er.
    Tatsache ist: Er wollte uns alle noch einmal im alten Haus versammelt sehen.
    Oh, das kindliche Bedürfnis, alle geliebten Dinge unter ein Dach zu bringen! Dantes Himmel ist ja das vollkommenste Beispiel dafür. Und, wie du weißt, im Grunde funktioniert alles Denken nur unter dieser stillschweigend vorausgesetzten Annahme. Große vereinheitlichende Theorie in der Physik. Ein Puppenhaus, in das man alle Muscheln und bunten Glassplitter legt, die man zusammengesucht hat. Goethes Sammelleidenschaft, ganze Häuser voll Strandgut. Wir ertragen viele Arten von Feinden und Gefahren, aber nur wenige Sorten von Dingen, die wir lieben oder die für uns von Bedeutung sind. Wir vereinfachen sie und fassen sie großzügig zusammen, um sie immer mit uns herumtragen zu können.
    Er ist nur kurz mit uns ins Schwimmbecken gestiegen. Es war ein kalter Tag, zugegeben, aber das Wasser war noch kälter. Wo waren wohl seine Gedanken?
    Aber das Schlimmste: René Templ. Ich weiß nicht, ob du ihn kennst oder gar schätzt. Ein junger ungebildeter Mann, der alles weiß. Gerade so definiert sich ja fehlende Bildung! Er zitiert ständig gelehrte Fachzeitschriften, behauptet, dass die Zeit kreisförmig sei und dass das Universum in sich zusammenzufallen drohe wie ein Kartenhaus. Jedes zweite Wort im Gespräch mit ihm ist
Entropie
.
    Er liest ganz entschieden zu viel. Seine Kunst ist ewiges Abschweifen. Zum Tod von Anna Mauser sagt er:
Der Tod in einem Landhaus … tragisch … sehr tragisch
. Als wäre es eine Novelle!
    Dabei blickt er mir so kühl in die Augen und lässt, im Gegenzug, mich ein wenig abschweifen.
    Er bittet mich im Übrigen, sein neuestes Buch zu rezensieren, das angeblich bald erscheinen wird. Ich habe höflich abgelehnt. (Ich habe doch mit Victors ungezählten Manuskriptseiten schon genug am Hals.) Dann beginnen wir, wie als Ehrenduell auf meine Absage, ein Gespräch. Templ ist ein Streithammel. Mauser hält ihn für ein Genie.
    Genies …
on the night’s plutonian shore
…
    Es grüßt dich
    Karl
    An Herrn
    Karl Senegger
    Lieber Karl,
    vielen Dank für deine Korrekturen. Beiliegend ein Ausschnitt, den ich zwar in die ursprüngliche Auswahl aufgenommen habe, den ich aber nun völlig unnötig finde. Bitte schreib mir, sobald du kannst, deine Meinung dazu.
    H.
    »Wie hat sich das Kind sein Recht auf Fortbildung verscherzt? Spielte dabei die Rotation der Erde, die man anhand der ziehenden Wolken beobachten kann, eine Rolle?
    Ist der riesige dunkle Fleck im Nachbarsgarten tatsächlich der Teufel? Wenn ja, auf welches vorbeistreunende Wildtier oder Mädchen wartet er,