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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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empfand fast so etwas wie Mitleid mit dem geknebelten Gegenstand.
    Die erlösende Fernbedienung.
    Steve Reich: »Music for 18 Musicians«.
    Die Musik machte es ihm leicht, an die großen Konstanten seines Lebens zu denken. Während sich die zitternden, weit hallenden Rhythmen überlagerten und verschiedene Instrumentengruppen abwechselnd in Trance fielen, dachte er an seine Frau, ein totes Gespenst, das seine Träume aus unerklärlichen Gründen mied. Ob es sie – wirklich
sie
, nicht ihren leblosen Abdruck in irgendeinem Material – ob es sie noch irgendwo gab? Er ließ den kindlichen Gedanken zu und die Musik trug ihn fort. In unendlicher Zeit war doch schließlich alles möglich, alles im Grunde gleichzeitig. Es war doch, streng genommen, unmöglich, dass er und Anna nicht mindestens einmal wieder vereint werden sollten, in einem bilderbuchartigen, kindischen Sinn – dem einzigen im Übrigen, der zu akzeptieren wäre. Vorausgesetzt, die Zeit dauerte unendlich. So wie es – wie Borges beweist – unmöglich ist, nicht mindestens einmal die »Odyssee« zu schreiben, wenn man unendlich lang leben würde. Aber die Zeit hörte ja irgendwann auf, was, streng genommen, auch das Ende aller Religionen bedeutete. Die Ironie dabei ist allerdings, dass nur eine Handvoll Physiker diesen Gedanken tatsächlich nachvollziehen können.Keine Zeit mehr – welche Menschen konnten diesen Ausdruck verstehen?
    Wie klangen diese Gedanken ohne Musik?
    Er drückte auf Pause. Der Raum erwachte aus seinen Träumen. Das Zimmer war wieder zu hören, die Stille der Möbel und Vorhänge. Die Unendlichkeit war verschwunden. Sie mochte noch irgendwo weit draußen sein, vielleicht, in den Schemen der nassen Herbstbäume, die man durch das Fenster gerade noch erkennen konnte. Aber an die Unendlichkeit zu denken hatte ein unangenehmes Echo bekommen, das die Musik bisher übertönt hatte – ein Echo wie das einer Kinderstimme im kalten, fremden Treppenhaus eines alten Schulgebäudes.
    Er schloss die Augen.
    Templ, nach einer Lavater-Zerlegung: Heroische Nase, unterwürfige Stirn, geniale Augen, soldatisches Kinn, Herrscher-Ohrläppchen, Diener-Kehlkopf (beweglich wie ein Lastenlift), cholerische Handflächen, milde Zehen, naturverbundene Hoden, geisteskrankes Gebiss.
    Das ganze Gebilde rubbelte sich in Mausers unermüdlicher Vorstellung, immer wieder, immer wieder den Rücken trocken. Mein Gott, wie kalt war ihm, Mauser, an dem Tag gewesen. Eiskaltes Wasser war nichts dagegen, Wind, das Vorgefühl des Umzugs, alles nichts. An dem Tag war alles zusammengebrochen, die ganze Zukunft. Und das ist immerhin das Einzige, was man gegenüber den Ahnen als Trumpf besitzt: ungewisse Zukunft. Unsichere Karten.
    Aber nach dieser Farce, nach dieser Tragödie …
    Und dieser Templ steht da einfach nackt im Wind und spielt Michelangelos David. Armer Kienspanner, sieh sich einer seinen Blick an. Senegger, natürlich,der wendet sich ab. Alte Schule. Kein glatzköpfiger Philosoph für Knaben. Obwohl er von den tröpfelnden Postum-Veröffentlichungen seines Sohnes lebt.
    Warum nur fielen ihm ständig Zeilen aus Templs Gedichten ein, wenn er ihn ansah, so wie jetzt, durch die Scheiben der Terrassentür.
Der himmel / sieht so aus / als hätte er die sonne / eingeklammert / diesen / punkt am ende / der rufzeichen
. Oder so ähnlich. Nein, sogar ganz genau so. Der reine Kitsch.
    Jetzt hatten sie endlich bemerkt, dass der Gastgeber gegangen war. Können Sie mich sehen? Nein, wohl nicht. Ja, jetzt ist die Luft raus. Jetzt patschen sie aus dem Wasser, nach der Reihe, schwankende Pinguine.
    Auch auf der Abendgesellschaft hatte es ihn gegeben, diesen toten Punkt, den unendlich weit entfernten Punkt des Hohlspiegels. Abschiedsfeier, gewissermaßen.
Für A
. Ein Abend, ein rauschendes Fest als Widmung, als Unterschrift. Dann die Kur, die Anstrengung, diese entsetzliche Anstrengung. Ganz abgezehrt zurück. Keine Hoffnung mehr. Mauser stand, zu seiner beginnenden Verzweiflung, mitten drin: Der Winkel des großen Wohnzimmers, eine unauffällige Nische, keine Falle, kein Hindernis. Er hatte von hier aus die lebhafte Gesprächsrunde beobachten können. Seltsam. Seine Frau, wie klein sie ihm erschienen war, gesellte sich wohl dazu, trug einen, ja, was eigentlich, ein paar Gläser, wahrscheinlich den Aperitif.
    Mauser, in der Vergangenheit; ein durch Schmerz und Wut von seinem Nachfolger abgetrennter Schatten sah auf die Uhr, bald war das Essen so weit.Mit ihren vielen Halstüchern

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