Söhne und Planeten
Kälte, in den betäubenden Schnee und die knisternden Disteln des Winterregens.
Schon Abend. Zum hundertsten Mal dachte er beim Anblick des frühen Sternenhimmels denselben Gedanken: Ein Gott, der all das gemacht hatte, so wie Menschen irgendetwas machen, war unerträglich dumm und kindisch. Was man gerade noch gelten lassen konnte, war, dass all das ohne Absicht entstanden war, so wie interessante Muster und Formen entstehen, wenn man sich ausgelassen im Schnee wälzt. Das wiederum bedeutete nichts anderes alsdas Chaos, den geistlosen Zufall. Die Theologen brauchten aber tatsächlich etwas, das will, das denkt, das überlegt, urteilt, die ganze Sandkiste voll mühevoll errungener Gefühle und Gedanken, mit denen das menschliche Gehirn sich herumschlägt.
Nein. All das dachte Mauser nicht, während er in den Himmel schaute. Was er dachte, glich eher dem Kleiderrascheln und Räuspern, das auf den Reigen dieser Sätze über Gott und den Zufall folgen würde, bevor sich die imaginäre Zuhörerschaft von ihren Sitzen erhob und zum Buffet drängte.
Er ging, da es langsam kalt wurde, wie überall im Universum, vorerst nicht zurück zu den Gästen, sondern ins Innere des Hauses. Das Wohnzimmer und die Küche des fremd gewordenen Haushalts und die Dunkelheit, in der all die Zimmer lagen, machten ihn traurig. Er dachte an morgen und dass er morgen in aller Frühe abfahren würde, und dieser Gedanke lenkte ihn in seiner wunderbaren Entschiedenheit gleichzeitig etwas ab. Das Auto würde ihn zurück in die Stadt bringen, von wo aus er den Verkauf des alten Hauses, in dem er so lange gewohnt hatte, dirigieren und beobachten würde. Er würde einer dieser zurückgezogen lebenden alten Männer werden, die alles aus der Ferne erledigten, vom Sessel aus, mittels handgeschriebener Briefchen. Einer jener nie zufriedenen –
Plötzlich kam jemand aus der stockdunklen Küche auf ihn zu.
Mauser schrie.
4
Abschweifungen
An irgendeinem Punkt wurde mein Bedürfnis nach einer Lösung durch die Poesie meines dauernden Misserfolgs ersetzt
.
Charles Simic
Mein Name ist René Templ. Nächsten Herbst werde ich vierundzwanzig Jahre alt. Ich bin Schriftsteller. Niemanden will ich damit imitieren. Man hat mich gebeten, darüber zu schreiben, wie sehr mich Ernst Mauser persönlich geprägt hat. Diese Frage lässt sich nicht beantworten. Isoliert über mein Verhältnis zu dem Dichter Mauser zu schreiben, ist mir unmöglich. Es bleibt nur der Umweg über das Panorama, die Gesamtschau. Alle Dinge, die mich geprägt haben, werden im Folgenden erläutert. Stellen Sie sich vor, Sie führten mit mir ein Gespräch. So wird es am erträglichsten.
Im Grunde bin ich freilich ein unerträglicher Gesprächspartner. Denn obwohl meine Arbeit als Schriftsteller eine Art von Bettelei ist, die bei mir völlig unbekannten Menschen um Zuneigung und Gefallen wirbt, gebe ich mich in alltäglichen Gesprächen oft sehr unabhängig und stolz. Ich rede über abwegige Themen, halte lange Monologe oder bin geradeheraus verletzend. Das hat bestimmt mehrere Gründe.
Ein paar davon finden sich auch in den Dingen,die mich geprägt haben und deren rechter Platz im konzentrierten Scheinwerferlicht eines Selbstporträts ist. Ich gehe dabei nach keinem besonderen System vor. Ich lasse die Dinge einfach der Reihe nach antreten, wie bei einem Erschießungskommando.
Sagen wir, unser Gespräch kreist um Religion.
Ich habe immer ein wenig darunter gelitten, dass ich Religion nicht verstehen konnte. Die Menschen in meiner Umgebung gingen ihr mit großer Selbstverständlichkeit nach und hatten, wenn ich sie fragte, warum sie es gerade so und nicht anders taten, immer die einleuchtendste aller Erklärungen: So lebe ich am leichtesten, ohne Glaube wäre mein Leben nicht zu ertragen.
Nichts lässt sich auf diese Begründung erwidern. Später habe ich dann über Umwege erfahren, dass Religion nichts ist, was man verstehen muss, sondern etwas Unscharfes in der Leerstelle zwischen zwei klar umrissenen Gedanken, wo Wahr und Falsch nicht existieren, nur ein fließender Übergang von So-tun-als-ob und Für-wahr-Halten.
Es ist mir aus merkwürdigen Gründen unangenehm, die begriffliche und die bildliche Klarheit aufzugeben und stattdessen in irgendwie erfühlten Dingen herumzuwaten. Ich brauche meine sprachlichen Skelette, meine klar scheinenden Definitionen, meine deutlich voneinander abgesetzten Leitersprossen. Das ist ein recht armseliger Zustand und ich bin, scheint es, ganz allein
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