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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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damit, da jeder Mensch, den ich kenne, an irgendetwas glaubt. Ein kleiner Ein-wand zu dieser Armseligkeit wäre, dass ich zumindest nicht der Illusion verfalle, meine Begriffe undZahlen und poetischen Versuche hätten irgendetwas mit der korrekten Einschätzung von Realität zu tun. Realität sind sie, aber das ist Religion auch.
    Gott ist die größte Faulheit, die je erdacht worden ist! Nur im ersten Augenblick der mystischen Gegenwart teilt sich vielleicht eine Furcht einflößende Größe und Allmacht mit, durch die magische Oberfläche einer leeren Obstschale oder eine sonnenerhellte Mauerecke von Vermeer oder einen Höhepunkt in einem kontrapunktischen Meisterstück von Bach. Oder durch jeden anderen Gegenstand. Aber schon der zweite Gedanke ist ganz Frieden, ein gleitender Sturz durch die Falltür der Jahrtausendvokabel auf die Ruhebank einer abgelösten Unabhängigkeit. Endlich still, endlich keine Frischluft mehr!
    Ich habe immer versucht, mich meinem Mentor Ernst Mauser verständlich zu machen. Er nickte dazu immer nur. Er hatte andere Dinge im Kopf. Im Wiener Narrenturm gibt es den konservierten Schädel eines Mannes, der aufgrund fortgeschrittener Syphilis keinen Gaumen und keine Nasenscheidewand mehr hatte. Um aber trotzdem noch essen zu können, bastelte sich der gelernte Schuster einen Leder-Gaumen mit dazugehörigem Holzpfropfen, der ihm das Schlucken ermöglichte. Ich weiß nicht, was mich an der Geschichte jedes Mal so berührt. Ist es die Vorstellung des Mannes, wie er bastelt, wie er probiert, verwirft, wieder probiert und endlich den ersten Probebissen in den Mund nimmt? Wie er ein wenig Zeit gewinnt, noch ein Stückchen, noch eins und noch eins? Sein Körper hat ein paar kaputte Teile, langsam fällt er auseinander, aber bis zum völligen Zerfall wird er noch an besonders wichtigenStellen ausgebessert, geflickt und notdürftig in Betrieb gehalten.
    Gut, lassen wir das. Was ich damit sagen wollte: Ein religiöser Mensch hätte ein solches Gesellenstück wahrscheinlich gar nicht erst in Erwägung gezogen. Mauser verstand diesen letzten Schluss nie. Wir haben auch nicht lange darüber debattiert.
    Die Wohnung meiner Eltern wurde, als wir kurz nach meiner Geburt darin einzogen, vollkommen renoviert, denn sie war seit Ende des Krieges unberührt verwüstet geblieben. Meine frühesten Erinnerungen kleiden sich in das Hellweiß frisch verputzter meterhoher Räume. Leere, unschlüssige Zimmer, ein gefährlicher Balkon mit uraltem, rostrotem Geländer und die wie durch einen Karateschlag mitten entzweigebrochene Badewanne mit Löwentatzen. Sie war der erste Gegenstand, der aus unserer Zukunft entfernt wurde.
    Erste Gegenstände spielen vielleicht die wichtigste Statistenrolle in unserem Leben. An meine erste Erzählung beispielsweise kann ich mich noch genau erinnern.
    Ich hatte immer schon die Gewohnheit, meine Einfälle und Phantasien aufzuzeichnen. Wahrscheinlich unterscheidet sich ein künstlerisch begabter Mensch von einem unbegabten überhaupt nur darin, ob er als Kind und später als erwachsenes Kind zur Fixierung und Konservierung seiner Einfälle neigt.
    Wie auch immer, meine erste Geschichte, mein erstes Buch, schrieb ich mit ungefähr acht Jahren. Die Geschichte konnte noch nicht allein auf den Beinen der Sprache stehen, also wurde sie an Zeichnungen und Sprechblasen festgemacht. Das sechs Seitenstarke Comic, das so entstand, hieß »Der Professor und der Idiot«. Der Idiot ging eines Tages neben dem Professor. Der Idiot spielte mit einem roten Ball. Er warf den Ball so weit von sich, dass er ihn nicht mehr finden konnte. Der Ball lag neben einem kleinen Hasen. Der Hase saß unter einem Gebüsch, das in einem Wald stand. Der Idiot fand den Ball nicht mehr, also ging der Professor ihn suchen. Dann entdeckte der Professor den Hasen und sagte: Aha, ein Ball-Hase.
    Dem dazugehörenden Bild entnehmen wir, dass der Hase über die Bemerkung des Professors lächelt. Eine Pfote hält den Ball fest, ein erster Entwurf der anderen Pfote wurde mit dicken schwarzen Filzstiftstrichen getilgt.
    Die letzte Seite des Epos scheint zu fehlen. Ich kann mich an die Moral der Geschichte nicht mehr erinnern, vielleicht gab es auch keine. Am liebsten stelle ich mir vor, dass der Professor den Ball gar nicht findet, da er in seiner wissenschaftlichen Weltsicht Hase und Ball als Einheit begreift. Aber so ist die Geschichte bestimmt nicht ausgegangen. Der Idiot ist wahrscheinlich längst dazwischengesprungen, hat den

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