Söhne und Planeten
mütterliche Melodie; von unten betrachtet, ein Kinn, ein weiblicher Mund, Andrang der Brüste, Wärme, Geborgenheit. Das Marschieren dagegen, das Stampfen der Füße, das langsam zur Trommel wird und später zum Schlagzeug und, natürlich, zum quietschenden Metallgeräusch der im Sturm eroberten Betten.
Empfängnisbereit, pflegend, bemutternd, besänftigend.
Thomas’ Gedanken gingen immer wild durcheinander, nachdem er mit Angelika geschlafen hatte. Diesmal war es zwar nur ein kurzes Spiel gewesen, zwischen Tür und Angel, zwischen Traum und Wirklichkeit, aber es hatte ihn dennoch, so wie jedes Mal, erschüttert und gleichzeitig euphorisch gestimmt. Manchmal, gerade wenn sie ihn hinterher allein zurückließ,wurde er so unruhig, dass er sich fragte, ob mit ihm vielleicht etwas nicht stimmte.
Aber vermutlich war es nur dieser Tag, der seltsame, wehrlos auf dem Rücken liegende Tag, der ihn erwartete. Thomas wollte zuerst Jan und Nina besuchen, dann die Begräbnisfeier – und er wusste jetzt schon, dass er das nicht schaffen würde, sich einfach neben die anderen Trauergäste zu stellen, damit sie ihn misstrauisch beäugen konnten. Mindestens die Hälfte von ihnen waren eingeweihte Wahnsinnige. Er öffnete die Schublade seines Schreibtischs. Sie klemmte und er rang eine Weile mit ihr. Dann gab sie wie von selbst nach, ein plötzlicher Anfall von Amnesie.
Er suchte nach den zerknitterten Zetteln, die er damals aus dem trüben Wasser eines Waschbeckens gerettet hatte. Victor, sturzbetrunken, im Nebenzimmer. Egal, was mit den Texten passiert. Im Grunde, dachte Thomas, als er die Zettel sah, noch bevor er gelesen hatte, was darauf stand, im Grunde hatte Victor für die ganze Sache eine Ohrfeige verdient.
»Ich habe irgendwann einmal begonnen, so zu tun, als sähe ich Geister. In Zimmerecken, auf leeren Sitzplätzen in der Straßenbahn oder verfangen in Pfauenfedern. Dadurch habe ich sie wohl angelockt. Es ist wie mit dem Glauben: Eine Zeitlang tut man so, als rede man mit Gott, den Eltern zuliebe oder den sentimentalen Lehrern, dann plötzlich ist Er wirklich da, spricht mit donnernder Stimme in der eigenen Brust und missbilligt alles, was man bisher war oder getan hat.«
Angelika und Edith
Eine Sonnenuhr als Vorwand
…
v. s.
(Notiz auf einem Pappteller)
Seit wann? Seit drei Stunden schon wach. Wie soll man so einen Vormittag überstehen? In der ersten Stunde gleich die Schularbeit. Noch kopieren, das Angabeblatt. Schreibimpuls … zwei Sätze.
Schreibe eine kurze Geschichte nach folgenden Anfangssätzen
… Einer von Kafka, »Ein Käfig ging einen Vogel fangen«, und der andere aus dem Schulbuch: »Natürlich hat mein lange verschollener Zwilling das Recht, die Aussage zu verweigern …« Eigentlich ganz gut.
Angelika musste sich konzentrieren, damit sie nicht rote Ampeln überfuhr. An einer Kreuzung bemerkte sie in einem Auto, das neben ihr auf der anderen Spur stand, einen kleinen Hund, der hechelnd aus dem Fenster schaute. Vorbeirauschende Farben. Bunt. Angelika gähnte. Die Straße verschwamm für einen Augenblick.
Wenn er mich schon so früh aus dem Schlaf holen muss, könnte er wenigstens nicht nach fünf Minuten wieder aufhören.
Entschuldige, entschuldige, ich war so … so
… Aber wahrscheinlich hat er das gebraucht. Ein wenig Ablenkung, verkriechen. Abtauchen … Ich frage mich, wie er den Tag durchstehen wird. Die Besuche. Bei der Verrückten. Armes Ding. Vorallem der Sohn, blitzgescheites Kind. Wohnt jetzt bei seinem Vater. Ihr das Geschenk zurückgeben – brutal, grausam. Ich hab’s ihm gesagt: Du bist brutal, sonst nichts. Aber er muss, schüttelt den Kopf, muss. Das Händeschütteln mit den Trauergästen! So hilflos, der Arme. Sogar wenn er mich festhält und unter sich fixiert, wie die Kater ihre Weibchen mit dem Nackenbiss … Er bleibt immer hilflos, nackt, entblößt. Und hinterher so un
end
lich dankbar. Und schnell wieder einkuscheln und verschnaufen. Wenn er onaniert, kann er hinterher locker zwanzig Kilometer gehen. Aber im Bett, wenn er in mir, in
ihr
kommt, dann sucht er sofort Schutz auf seiner Seite, rollt sich ein, wickelt sich in die Decken. Ein erschöpfter, irritierter Kater. Ob er weiß, wie lächerlich er sich manchmal macht? Fünf Minuten, noch im Halbschlaf, ein wenig Stillhalten. Sitz. Aufstehen. Leg dich. Und erwartet dann auch noch Begeisterung. Wie alle.
Ja, ja, oh ja
… Rollige Kater.
Aber das Berührgefühl bleibt noch den ganzen Vormittag, ziemlich weit
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