Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
Vom Netzwerk:
innen. Vor allem, wenn er es sich von hinten auf mir bequem macht und mich so … voll…spritzt. Stoßweise. Liebe Zeit, Angelika, wie redest du denn … Hört einen ja niemand. Ein Auto ist ein schalldichter Käfig. Vogelkäfig. Jeder Fahrer in seiner eigenen Blase. Sie sollten irgendwas erfinden, damit man mit den anderen Autofahrern reden kann, irgendein Funkding. Zum Beispiel dieses Murmeltier da vorn … ja … so, jetzt blinken … ist ihm grad noch rechtzeitig eingefallen … und jetzt langsam abbiegen, im Schritttempo. Gut. Geduldspiel am Morgen.
    Angelika sperrte das Klassenzimmer auf und ließ die wartenden Schüler hinein. Manche von den Kindern schleppten Schultaschen, die fast so schwer waren wie sie selbst. Sie winkte ein paar Nachzüglern zu, die über den Gang geschlendert kamen – sie ging vor, die werden den Weg auch allein finden.
    Morgensonne. Widerlich.
    – Kann jemand da hinten das Rollo … bitte … sehr freundlich.
    Sie setzte sich hin, ein Fehler. Noch empfindlich. Und das nach fünf Minuten.
Mein Mann hat mich heute morgen wieder so
tief
gefickt, wisst ihr
. Die würden dreinschauen, alles ja noch Jungfrauen, sogar die Mädchen. Einen braven Jahrgang erwischt. Die Kopien, die Angabeblätter, vergessen.
    – Ihr habt noch ein paar Minuten Zeit zum Aufwachen. Bin gleich wieder da.
    Geschrei ging in der Klasse los, ein paar verzweifelte Gesichter bei den Mädchen, wie aufgescheuchte Schmetterlinge.
    – Die Zeit wird angehängt, keine Angst.
    Angelika lief mit der Kopiervorlage den Gang entlang. Was für hässliche Bilder … Schülerkunst. Ein abstraktes Röhrensystem. Eine moderne Kreuzigung mit wirr brausenden Strichen.
    Im Konferenzzimmer stieß sie mit Edith zusammen.
    – Tschuldigung.
    – Da hat’s aber jemand eilig.
    Edith, die Mathematiklehrerin, war heute ein wenig heiser. Es klang wie
chhheilig
.

Edith und Jürgen und Angelika und Gerd
    Das Schicksal eines Menschen ist, kurz gesagt, dieses: Er wird in einen Raum geführt, in dem eine begrenzte Anzahl von Objekten herumliegt. Mit diesen Objekten, von denen manche beweglich sind, manche nicht, muss er sich für den Rest seines Lebens beschäftigen
.
    Das größte Glück, das ihm zuteil werden kann, ist, wenn ihm eine unerklärliche Stimme knapp vor dem Betreten des Raums einflüstert, dass all die Objekte schon dringend auf ihn warten. Du kannst, wenn du willst, die Hautrunzeln auf den Knöcheln eines Säuglings betrachten und versuchen, diese Stimme wieder zu hören
.
    v. s.
    Hat sich wahrscheinlich wieder verspätet, das Püpp-chen. Fast schade, dass ich keinen Kaffee in der Hand hatte … dann wäre sie jetzt in echten Schwierigkeiten.
    Edith versuchte sich zu erinnern, ob Angelika, dieses junge Huhn, einen Schal getragen hatte oder nicht. Schals tragen sie alle, wenn sie verliebt sind. Das ist gerade einmal einen Grad unter einer Faustregel. Ob sie heute wohl zur Beerdigung geht? Armer, dummer Victor. Er hatte bei Edith maturiert, schade um ihn. Schade um sein Gehirn. Blutleer jetzt, wie Kreide. Oder Sand.
    Eine Schülerin wollte zu Edith ins Konferenzzimmer. Die schüchterne, wie heißt sie noch? IhreEltern sind aus Bosnien, der Vater im Rollstuhl. Zwangsarbeit, Konzentrationslager. Aus dem Mittelalter entkommen, nach Österreich. Die Mutter weint bei jedem Elternsprechtag, weil sie die Verhörsituation, zwei Frauen allein in einem Zimmer, ein Tisch zwischen ihnen, nicht aushält. Die Welt ist verrückt geworden. Wir sind ihre –
    – Komm nur, Kati.
    Heißt sie eigentlich Katja oder Kata?
    Angelika war mit dem Kopieren fertig und eilte an Edith und der an der Schwelle stehenden Schülerin vorbei aus dem Konferenzzimmer. Jetzt aber schnell, dachte Edith. Die armen Schüler, arme Ratten. Junge Hunde.
    – Komm nur her zu mir, Kati, trau dich ruhig.
    Die Schülerin überwand die Hemmschwelle und setzte einen Fuß in das Zimmer. Sie hielt sich an ihrer Mappe fest, der selbst gebastelten Formelsammlung. Immer noch die Ellipse, die Berührbedingungen. Armes, weiß nicht, was Berührung ist. Schneiden in einem Punkt.
    Plötzlich Gerumpel und schnelle Stimmen am Gang vor dem Konferenzzimmer. Eine der Unterrichtspraktikantinnen platzte herein, völlig außer Atem, den Tränen nahe. Edith ließ ihre Schülerin einfach stehen.
    – Was?
    – Sie haben zu dritt auf ihn eingedroschen, sagte die Praktikantin.
    Ein Schüler, heulend, laut jammernd, die Lippe blutig, die Nase vermutlich auch, seine Hände als Auffangbecken unter seinem

Weitere Kostenlose Bücher