Söhne und Planeten
wickeln.
Das Problem an der ganzen Sache ist, dachte er, dass die meisten Menschen diesen Mist tatsächlich und wortwörtlich für die Wahrheit halten. Und, als ob das nicht schon geschmacklos genug wäre, quälen und foltern sie alle, die es wagen, etwas anderes für wahr zu halten. Denn Glauben heißt in beinahe allen Fällen
für wahr halten
. Es hat fast nie etwas mit den fruchtbaren Verirrungen der Theologie zu tun, mit dem So-tun-als-ob, das sich plötzlich verselbständigt und zur Seifenblase eines glücklichen Lebens werden kann. Nein, die meisten Menschen glauben, um das Geglaubte auch tatsächlich in der Wirklichkeit vorzufinden, hier, in der eigenen Sandkiste. Wenn das nicht gelingt, werden sie gewalttätig, gegen Menschen, die gar nicht wissen, worum es geht, und die im Gegenzug zu noch grauenvolleren Bestien werden. Kurz: Man sollte sie alle aus der Welt schaffen, alle die Gläubigen, das heißt, überhaupt alle. Oder zumindest auf eine einsame Insel, wo sie dann ein Kirchenoberhaupt wählen, das sie bei lebendigem Leib verzehren dürfen, was sie dem pulsierenden Licht der Sterne einen Schritt näher bringt.
Aber diese Insel ist längst bewohnt.
Und siehe, da war Mirjam aussätzig wie Schnee
.
Was? Ein Satz aus dem Bibeltext war zu ihm durchgedrungen. Er las ihn noch einmal. Dann suchte er in den darüber stehenden Zeilen nach einem Verbrechen. Wie Schnee? Unsinn, alles Unsinn …
Trotzdem wurde ihm kalt.
Neben der aufgeschlagenen Bibel lag eine ebenso schön illustrierte Ausgabe der »Weltharmonik« Keplers. Nur sein schönstes Buch gibt es schon lange nicht mehr zu lesen, eine Traum-Abhandlung über die Astronomie des Mondes: »Somnium«. Den Rahmen bildet eine knisternde Dämonengeschichte. Der Mond, bevölkert von schlangenartigen Wesen. Und gegen Ende eine Erwähnung der Leute von Lucumoria, die alle Jahre mit dem ersten Winterfrost sterben und im Jahr darauf wieder erwachen. Winter, Spaziergang, Lieblingsschal.
Und bevor sie sterben, bringen sie noch alle Angelegenheiten in Ordnung, sie legen alle wichtigen Dokumente vor sich auf den Boden, verheiraten ihre Töchter, kümmern sich um Ausbildungsplätze für die Söhne, zimmern sich einen Sarg zurecht. Die Bevölkerung teilt sich in Sterbliche und Phönixe. Die Phönixe sind besonders unbeliebt. Mit dem ersten Sonnenstrahl im April tauen sie wieder auf, als wäre nichts gewesen.
Monster
.
Aber selbst daran könnte man sich gewöhnen, dachte Mauser und ließ das große Buch endgültig in Ruhe. An alles kann man sich gewöhnen, jede entsetzliche Absurdität lässt sich umdeuten in ein warmes Nest. Man muss nur dumm genug sein, sein eigenes Knie küssen, klassische Musik hören im Zimmer einer Toten …
Er blickte sich um. Er war völlig allein. Fern von zuhause, in der Stadt. Die einzige Zufluchtstätte eine Wohnung nahe des Glockenspielplatzes. Und in seinem alten Zuhause wohnten bereits andere Menschen, gesichtslose Phantome.
Er ging zu den Zeitschriften, er wusste, was ihn dort erwarten würde. Kein Wort von ihm selbst, natürlich nicht. Aber Kienspanner hatte tatsächlich wieder eine Rezension geschrieben, über »Die Ampel« von René Templ. Mauser legte die Zeitung zurück. Das alles ging ihn nur mehr wenig an.
Er trat aus der Buchhandlung. Gerade hatte es zu regnen aufgehört. Aber die Menschen hatten es noch gar nicht bemerkt und hielten weiter ihre Schirme in die Höhe, unter denen sie sich sicher fühlten.
Langsam und feierlich spannte Mauser ebenfalls seinen Schirm auf und ging durch die wunderbar rein gewaschene Luft nach Hause.
Stille Post
oder Der Burgplatz
Thomas und Angelika
Es dauert recht lange, bis man seine Gedanken hören kann. Lange wehren sie sich dagegen, bleiben ein undurchdringliches Gemurmel im Hintergrund, bleiben flüssig, unberührbar. Es dauert tatsächlich Jahre, bis sie einen Tonfall, eine Stimme gefunden haben. Dann allerdings neigen sie dazu, uns die Dinge viel lieber zu diktieren als zu erklären
.
v. s.
Das Licht am frühen Morgen ist verwandt mit Wimpern, mit durchscheinenden Lampenschirmen voller Arabesken und mit altersschwachen Fächern, die augenblicklich zu Staub zerfallen, wenn man sie auffaltet. In diesem Licht wird man Zeuge eines eigentümlichen Seiltanzes: Die Tränenkrümel im Augenwinkel und der kleine Finger, der sie vorsichtig hervorholt, ohne den sensiblen Augapfel zu berühren. Das erstarrte Gesicht währenddessen. Die Millimeterarbeit des Fingernagels.
Thomas rollte sich hin und
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