Söhne und Planeten
mitunter in nobelpreisgekröntenjapanischen Romanen findet: Mit kahl rasiertem Schädel, schwarz geschminkten Lippen, gekreuzigt auf einem gestohlenen Verkehrsschild, das in seinem Zimmer stand und Halteverbot verkündete – eine ironische Bestätigung seiner Berührungsängste. Zuerst hatte er sich selbst an die Stange gefesselt und sich anschließend mit einem Küchenmesser die Schenkelhalsader durchtrennt (auch das ein Zitat, wie Victor ihm versichert hatte). Im CD-Player lief in voller Lautstärke und als Endlos-Repeat-Schleife eine wilde Improvisation von Charlie Parker.
Es ist besonders tragisch, dachte Thomas, wenn erst ein derart mit Bedeutungen beladener Tod von dem Mitteilungsbedürfnis zeugt, das wie eine Zeitbombe in der Brust des Verstorbenen geschlagen hat. Victors Selbstmord entbehrte zumindest dieser unangenehmen Nachwirkung. Er war nicht im Mindesten inszeniert.
Bilder stiegen in ihm auf, quälende, schmerzliche Erinnerungen.
Victor, der sich im Halbdämmer einige Stunden vor seinem Tod immer wieder den Schlauch aus der Nase reißt und vor das Gesicht hält – was soll das sein? –, und die Schwester nimmt ihn natürlich sofort an sich und tauscht ihn gegen einen neuen aus. Seine Geste erinnerte an den berühmten plastinierten Menschen aus Muskeln und Knochen, der in der Hand seines ausgestreckten Arms seine Haut hochhält, als hätte er sich gerade erst von dieser lächerlichen Verkleidung befreit. Es liegt tatsächlich ein unleugbarer Stolz in den automatisierten Gesten der Selbstzerstörung, die verwirrten Patienten eigen sind.
Die Straße erstreckte sich vor Thomas morgendlichverschlafen wie das Innere eines gähnenden Mundes.
Zuerst die Besuche, dann die Beerdigung. Welches Haus ist es? Keine Nummern. Abgewetzt. Eine verlassene Straße, umgeworfene Mülltonnen. Und ein Basketball, gefangen in den Ästen eines Baums.
Schiedsrichter. Skelette
.Für einen Augenblick durchfuhr Thomas die Gewissheit, dass er hier in der Nachwelt, in
einer
Nachwelt spazieren ging. So sah sie für Victor aus. Einzelne Fäden liefen aus dem toten Zentrum noch weiter, die Frage nach seinen Manuskripten zum Beispiel. Sie drängte sich mit geradezu absurder Ausführlichkeit auf, so wie ein Zeitschriftenabonnement, das über den Tod eines geliebten Menschen hinaus überlegen und frech weiterbesteht und mit jeder Ausgabe eine schmerzhafte Erinnerung ins Haus liefert. Das Leben ist die reinste Brutalität.
Thomas kam an einem offenen Fenster vorbei. Musik.
Victor hatte oft über etwas gesprochen, das er die Musik
hinter
der Musik nannte, und er hatte sich immer gleich dafür entschuldigt, wie schrecklich esoterisch das klang. Eine Musik, vergleichbar am ehesten mit den Traumetüden von Paul Klee oder den drei Slapstick-Hunden in Franz Kafkas Erzählung »Forschungen eines Hundes«. Eine erotische Wirbelbewegung hinter den Dingen, von der natürlich jedes gute Musikstück beseelt ist, manchmal mehr, manchmal weniger deutlich – am deutlichsten vielleicht in einem Schubertlied, einem kosmischen Solo von John Coltrane, einer Prepared-Piano-Sonate von John Cage. Schönberg nicht zu vergessen. Listen, Ranglisten. Der Luxus und dasVergnügen des Geistesmenschen. Kataloge, Listen.
Item. Item
. Was Wagner betrifft. Was Proust betrifft. Man sollte am besten nur Listen von sich zurücklassen auf Erden. Gedichte sind im Grunde nichts anderes. Einkaufs-, Opfer-, Kondolenz-, Siegerlisten. Die ganze Welt zerfällt in Listen. Listen bilden die Substanz von Schulen, von Universitäten. Bestseller-, Literatur-, Ergebnis-, Anwesenheitslisten. Der Kanon. Deine Empfehlungen: Die »Göttliche Komödie«, natürlich, »Don Quijote«, oh ja, »The Tempest«, die vielleicht ungewöhnlichste Dichtung von allen, »Warten auf Godot«, selbsterklärend. »Ulysses«. Nabokovs »Ada«.
Meine Mutter hat eine Liste geführt mit erlittenen Ungerechtigkeiten – wie jede Frau; nur, ihre Liste gab es schwarz auf weiß. Meist weggesperrt in einer Schublade voller verbogener Büroklammern, die sich um das ganze Unrecht krümmten.
Jan war ein heller Kopf. Sein niedriger Irokeser war strahlend blau gefärbt und in seinen Augenbrauen hingen Ringe. Er studierte, was wenig überraschte, Philosophie. In seiner Freizeit packte er sein Cello oder seine E-Gitarre beim Hals und schüttelte sie durch oder er schrieb humorvolle Limericks über die Dinge, die ihn beschäftigten. Der beste ging so:
es gab mal nen herrn derrida
der schrieb différence mit nem
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