Söhne und Planeten
so einen Text zu schreiben, aber man kommt dem Kern der Frage dadurch auch nicht näher.
– Welcher Frage?
– Der Victor weiß es.
– Reg dich doch nicht so auf deswegen, sagte Nina.
– Ich hatte ja eigentlich gar nicht vor, hier zu sein, wenn er kommt. Ich habe etwas gegen seine Art zu reden. Er zitiert ständig, ist dir das schon aufgefallen? Das, was er da zuletzt geschrieben hat, ist nicht nur peinlich, es ist ein Eigentor: Das ist einfach tabu! Nachahmer werden vergessen. Gerade bei Kafka.
– Stilimitation. Stilimitation. Darf man doch machen.
Die Ms in ihrem Satz ließen die Zigarette zwischen ihren Lippen auf und ab hüpfen.
– Wie du meinst.
– Sag einmal … kreise ich eigentlich?
Jan schaute Nina an. Sie kreiste tatsächlich. Nur ein wenig, aber doch.
– Ja schon, sagte Jan.
– Wirklich? Weil … ich kann das nämlich gar nicht kontrollieren …
– Bleib halt einfach stehen.
– Bin ich jetzt –?
– Nein, du kreist immer noch.
– Siehst du? Kann ich nicht steuern. Ist vielleicht so was wie die Eigenschwingung. So wie auf einer Brücke.
Jan nahm sie bei den Schultern. Sie hörte auf sich zu bewegen, lehnte sich gegen ihn.
– Er hätte nach Paris mitkommen sollen, sagte Nina traurig.
– Paris? Du warst doch nie in Paris, sagte Jan. Was meinst du mit
mit
kommen?
– Ich meine nur. Wir hätten dort sicher etwas gefunden, sagte Nina. Irgendwas. Nur wir drei.
Thomas und Jan
Was muss geschehen, dass ein Sohn die Biographie seines Vaters ebenso rührend finden kann wie die einer fiktiven Romanfigur? Warum vergibt ein Sohn seinen Eltern ihre Hilflosigkeiten so schwer? Es bildet sich in ihm mit so großer Selbstverständlichkeit der Wunsch, sie für all ihre Naivität, Unwissenheit und Vorsicht zu maßregeln – er träumt davon, er führt verbissene Selbstgespräche mit seinen Eltern, er experimentiert sogar damit, dieselbe Hilflosigkeit und kindliche Unwissenheit zur Schau zu tragen, wie eine im Entstehen befindliche Identität, in dem Augenblick, in dem sie durch das Schicksal bestraft werden.
Céline hat recht, Philosophieren ist auch nur eine Art, Angst zu haben. Genauso ist Angst haben nur eine Art, mit seinem Körper auszukommen. Victors Angstanfälle. Schon damals in der Schule. Das eine Mal, als er sich den Arm aufgeschnitten hat. Die Lehrerin, einer Ohnmacht nahe, zerrt ihn mit sich. Und ausgerechnet in meinem Schulübungsheft seine Blutflecken. Seltsame Zeichen. Ich habe gedacht, er hat das mit Absicht gemacht, um mich zu markieren: So, du bist jetzt für mich verantwortlich. Und wie er sich nicht mehr nach Hause getraut hat und den Schlüssel zur Wohnung weggeworfen hat im Volksgarten. In den Mühlgang, der da gerade ausgetrocknet war. Ausgetrocknet … War das der Sommer, als die Bettler im trockenen Flussbett gesessen sind? Ein seltsames Bild, und ohne den Ankereiner Zeitangabe … Hitze, Dürre, der ausgetrocknete Mühlgang. Und diese verwahrlosten Männer mit ihren viel zu dicken Mänteln und den langen Bärten und pechschwarzen Händen … sitzen da, und auf sie herab regnet es Blüten. Oder bilde ich mir das nur ein? Blüten. In der Erinnerung sind sie da. Üppig, Boten des Dursts, wie tote Bienen. Und Fliegen, genau … überall. Widerlicher Anblick. Victor mit dem Schlüsselbund und ich verfolge ihn durch den Park, ein Spiel. Er ist immer der Schnellere gewesen, aber das hat mich nicht aufgehalten. Sein schmaler, drahtiger Körper. Immer hinterher, über den Tennisplatz, durch die Wiese, die immer dermaßen übersät war mit Hundescheiße. Wie ein Minenfeld. Nach einer gewissen Zeit entwickelte man dafür einen sechsten Sinn. Überlebensstrategien! – Daraus besteht die Kindheit. Ein Purgatorium schrittweise abnehmender Verletzbarkeit.
Thomas bog um eine Ecke und ein Windstoß empfing ihn, ging durch ihn hindurch. Gespenster. Glitzernde Schlüssel, die ins seichte Wasser fielen … Also doch nicht derselbe Sommer. Die Zeit, vollkommen durcheinander.
Und seine Angst, nach Hause zu gehen. Diese entsetzliche Angst.
Was ist denn da? – Verstehst du nicht. – Was versteh ich nicht? – Was da ist. – Und was ist das? – Frag nicht so blöd
.
Victor irrte oft tagelang durch den Park, auch nachts. Zumindest behauptete er das. Todessehnsucht? Er hatte ihm einmal von einem Selbstmord erzählt, allerdings viel später, als abschreckendes Beispiel für… ja, wofür? Der Junge hatte sich auf eine jener besonders verzweifelten Arten das Leben genommen, wie man sie
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