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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Waits.
I said Baby … I’m so far away from home

    Sein Blick fiel auf die Zeitschriften.
PM
.
Geo
.
Medizin Populär
. Das Übliche. Auch Literatur, eine Zeitschrift namens
KEHRE
.
    Er blätterte darin und fand eine lektorierte Fassung von Büchners »
Lenz
«. Interessant. »Am zwanzigsten Januar wanderte Lenz durch die Berge. Auf die Gipfel und hohen Bergflächen hatte es schon geschneit und in den Tälern ringsum konnte man bereits graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen erkennen.«
    Dann eine feministische Version des Textes. »Am 20. 1. ging Lenz. Durch die hohen Berge. Ging und ging. Die Gipfel: sehr groß, aufgerichtet. Weite Bergschluchten. Tiefe Falten. Hohe Gipfel. Und darauf: Schnee. Und sehr graues Gestein und Flächen und Felsen. Tannen als einzige Lebewesen.«
    Der Feminismus, dachte Thomas und die Stimme in seinem Kopf war die von Victor, der über dieses Thema immer gesprochen hatte wie über eine historische Kuriosität: Wenn der Feminismus nicht Systemkritik ist, ist er Sexismus. Die Feministin ist zu keiner anderen Wahrnehmung mehr fähig als zu dem Tunnelblick ihrer biologischen Ausstattung. Natürlich, das ist eine männlich-doktrinäre Sichtweise – Victors angriffslustiges Gesicht erschien, tatwohl, löste sich wieder auf –, aber eine andere Sichtweise wäre mir und meinem Penis auch gar nicht möglich.
    Thomas kicherte, schaute zur Sekretärin hin und wieder ins Heft. Weiter zu den Leserbriefen.
    Gegen diese ganze pessimistische Literatur in Ihrem sonst von mir hochgeschätzten Blatt: Ich denke mir manchmal, dass wir hier auf dem dritten Sonnenplaneten eigentlich sehr, sehr bemerkenswert sind. Wir wissen, dass wir zu Nichts werden, in absehbarer Zeit. Das ist doch genial. Warum müssen dann immer alle Schriftsteller darüber so negativ schreiben? Wir können immerhin sehen, unsere Augen reagieren auf Licht. Auf Licht, man muss sich das einmal vorstellen! Ich weiß schon, dass »bemerkenswert« genauso nur ein menschlicher Begriff ist wie beispielsweise »regnerisch«, »blau« oder »schadenfroh«. Aber das ist auch nicht der Punkt. Das Argument der Relativität ist merkwürdig substanzlos für mich. Es ist vielleicht einfach ein Privileg, das ich ergreife, so wie ich als Katholik vom Privileg Gebrauch mache, in den allerfrühesten Morgenstunden, bei klirrender Kälte, zur ersten Messe zu gehen. Oder wie das Privileg des Tafelschwamms, der in der Regenpfütze liegt und glaubt, er sauge sich mit den Wolken und Baumwipfeln voll, die sich im schmutzigen Wasser spiegeln.
    Er blätterte weiter zu den Gedichten. Sie strengten sich alle sehr an, die Großbuchstaben am Anfang der mit dunkler Bedeutung vollgesogenen Wörter zu unterdrücken. Dafür schossen sie in den Nachbemerkungendann wie Pilze aus dem Boden: Wörter wie kleine Dorfkirchen.
    – Ja, du bist der Besucher von Nina?
    Herr Scheucher, wie ihn sein Namensschild nannte, der aus dem Nichts aufgetaucht war, hielt ihm seine große Hand hin. Thomas griff danach und Scheucher zog ihn daran in die Höhe.
    – Leicht!, sagte er und schlug Thomas auf die Schulter.
    Der Betreuer roch stark nach Alkohol und ging auch etwas unsicher, er begrüßte jeden Türrahmen einzeln durch eine kurze Berührung. Er hatte lange Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Sein Oberkörper war sehr breit, sein Hemd spannte sich im Schulterbereich.
    – Das Frühstück, sagte der Betreuer zu einer Frau, die verloren in einer Ecke des Raums über einer einzelnen Briefmarke saß. Sie betrachtete die Briefmarke durch eine Lupe.
    – Guten Morgen, Nina …
    Thomas’ zum Gruß ausgestreckte Hand blieb unbeachtet. Herr Scheucher griff nach ihr, schüttelte sie erneut und amüsierte sich köstlich über diesen Einfall. Dann ließ er Besucher und Besuchte allein.
    – Eine Propellermaschine, sagte Nina, sehr leise, wie eine Wissenschaftlerin am Mikroskop.
    Thomas beugte sich vor, Nina zuckte zurück und ließ dabei die Lupe beinahe fallen. Sie hielt sie nur sehr locker, als hätten ihre Finger keine Kraft.
    – Ich wollte nur fragen … ich wollte, begann Thomas, aber er merkte, dass Nina überhaupt nicht auf ihn achtete. Sie stand auf und ging zum Fenster,kehrte aber gleich wieder zurück und setzte sich vor ihre Briefmarke.
    Was du vorhast, ist grausam, sagte die Stimme von Angelika in seinem Kopf. Grausam, verschlagen, brutal. Lass sie, um Himmels willen, in Ruhe. Sie hat schon genug durchgemacht, ist verlassen worden, auf die brutalste

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