Söhne und siechende Seelen
erklären?«
»Was?«
»Los, komm her.«
»Ich trinke noch meine Milch aus, dann komme ich«, sagte mein aufgeregter lieber Freund und bereute sogleich, dass ihm der Grund herausgerutscht war, warum er mich warten lassen würde. »Ein Glas Milch nach der Schule wirkt Wunder.«
»Kipp die Milch ins Waschbecken und komm«, sagte ich und legte auf.
Zehn Minuten später kam Hakan mit säuerlicher Miene, als hätte er einen kräftigen Fausthieb in die Magengrube kassiert.
»Ich hab dir doch gesagt, dass du diese Milch nicht trinken sollst.«
»Ich will meine Mutter nicht enttäuschen«, sagte er und versuchte seinen nassen Regenmantel aufzuhängen. »Im Augenblick ist sie total gereizt. Das Baby schafft sie. Außerdem haben sie und mein Vater sich momentan ständig in der Wolle.«
Ich nahm ihm seinen Mantel aus der Hand und hängte ihn über einen der Stühle in der Diele. Ich stapfte direkt in mein Zimmer und warf mich auf den Diwan, auf dem zwei Nächte zuvor Rebi Abi geschlafen hatte. Da sah ich, dass der Dussel vor der Tür stehenblieb. Natürlich. Er würde sich im Leben nicht hinsetzen, solange man ihm nicht einen Platz anbot. Bestimmt würden in der Zukunft die heiratswilligen Mädchen ihn heiß begehren. Er verfügte über alle Eigenschaften, die die Damen von einem Waschmittel erwarten würden. »Setzen Sie sich.«
Mit einer Ecke seines Hinterns setzte er sich auf den Stuhl vor meinem kleinen Schreibtisch. »Du warst gestern nirgends zu sehen.«
»Ich war mit meinen Eltern im Büro.«
Nachdem Hakan sich ein wenig auf dem Stuhl hin und her gewunden hatte, beugte er sich nach vorne: »Wir haben alles erfahren.«
Sie hatten also alles erfahren. Es war kein Geheimnis mehr, dass ich die Puppe, die auf dem Fernseher saß, ein paar Mal in der Woche in mein Bett mitnahm und vernaschte. Verfügten sie tatsächlich über derart verlässliche Quellen? »Was habt ihr erfahren?«
»Dass du Gazanfer Abi verpetzt hast«, sagte Hakan und zählte die Linoleumplatten. Es schien, als wollte er mich nicht noch mehr beschämen, indem er mir ins Gesicht sah. Ich sagte ja bereits, ein taktvoller Junge.
»Ich habe niemanden verpetzt«, sagte ich. Wie sie das wohl herausgefunden hatten?
Hakan beantwortete die Frage, die mir gerade durch den Kopf gegangen war. »Du hast doch gesagt, dass du ihn gesehen hast, als er aus Hicabi Amcas Haus kam. Das hat Cemalettin von Gazanfer erfahren. Und Gazanfer weiß es von der Polizei.«
Die Polizei! Ich traute meinen Ohren nicht. »Aber wie ist das möglich?«, stotterte ich.
Hakans Antwort fiel ungefähr so blöd aus wie meine Frage. »Ja.« Da meine Schuld mittlerweile eindeutig bewiesen war, konnte er seine lammfrommen Augen auf mich richten. »Koray Abi haben sie auch festgenommen. Erkin Abi haben sie nicht finden können. Sie suchen ihn.«
»Ich habe niemanden verpetzt«, wiederholte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ich denke, du hast dich vollkommen richtig verhalten«, meinte Hakan und betonte damit, dass es unnütz war, meine Schuld abzustreiten. »Ich an deiner Stelle hätte es genauso gemacht.«
Wenn du an meiner Stelle gewesen wärst, hättest du dir bloß in die Hosen gemacht, dachte ich. »Okay, mein lieber blöder Freund«, sagte ich wütend. »Wenn ich Gazanfers Namen verraten habe, warum sollte die Polizei dann hinter Erkan und Koray her sein?«
»Das weiß ich echt nicht«, sagte er in einer besserwisserischen Art, als wäre das mein Problem.
Ich war kurz davor, ihm den Schädel einzuschlagen, als das Telefon erneut klingelte. Sofort rannte ich ins Wohnzimmer und hob energisch den Hörer ab: »Hallo?«
»Hallo? Hier spricht Kommissar Onur Çalışkan.«
»Walter Matthau«
, gab ich zurück.
»Wie bitte? Ich hab dich nicht verstanden.«
»Sie rufen wohl an, um mir zu sagen, dass ich in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde«, erwiderte ich. »Natürlich muss ich mich noch einer Gesichtsoperation unterziehen. Ich wollte schon immer aussehen wie Walter Matthau.«
Ich hörte lautes Gelächter. Der junge Polizist nahm das Ganze wohl nicht ernst. »Du bist mir vielleicht ein lustiges Kerlchen. Wie kommst du bloß auf solche Sachen?«
»Und wie kommen Sie darauf, einem Psychopathen zu erzählen, dass ich ihn verpfiffen habe?«
Onur Çalışkan hüstelte ein paar Mal, dann gab er eine Erklärung ab, die mich fühlen ließ, dass unser Staat mit all seiner Macht hinter mir stand. »Eh, dings, die Kollegen haben ihm, dings, sie haben halt … Mach dir keine
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