Söhne und siechende Seelen
wie geheißen. »Okay?«
Er schnappte sich den Umschlag und lächelte, als sei er das Wertvollste auf der Welt. Ich wertete das als ein Ja, band meine Stiefel zu und ging hinaus. Auch er zog sich an und sprang aus der Wohnung. Soweit ich mitbekam, vergaß er beim Türschließen auch nicht das Geh-mit-Gott-Gedöns. Ich rannte die Treppe hinunter und machte mich auf den Weg in Richtung Polizeiwache. »Und ich gehe zur Post«, rief Hakan hinter mir her.
Beim Betreten seines Büros hatte ich befürchtet, dass Onur Çalışkan mich mit überschwänglichen Freudebekundungen empfangen würde, aber dem war nicht so. Lächelnd, aber kühl schüttelte er mir die Hand und machte mich mit dem Mann bekannt, der drinnen an dem einzigen Tisch saß und diverse Unterlagen prüfte. »Das ist der Junge, den ich erwähnt hatte.« Dann wandte er sich an mich. »Der Herr Staatsanwalt will etwas sehr Wichtiges von dir.« Der Herr Staatsanwalt also. Daher die maßvollen Bewegungen.
Stille. Der Herr Staatsanwalt hob nicht einmal seinen Kopf von dem, was er da las. Am Schluss bequemte er sich, die Papiere auf den Tisch zu legen und mir in die Augen zu sehen. Mit dem glattrasierten Gesicht, dem sorgfältig gekämmten Oberlippenbart und dem schicken Anzug, der exakt an seinem schlanken Körper saß, verfügte der Herr Staatsanwalt beinahe über ein sanftes Äußeres. Doch wie sehr dieses Äußere trog! Die Autorität quoll ihm schier aus den Knopflöchern. An seinen Augen, die ruhig in meine Seele vorzudringen versuchten, konnte man seine Intelligenz ablesen; an den schmalen, zusammengekniffenen Lippen wiederum ließ sich erkennen, wie erbarmungslos diese Intelligenz war. Er gehörte zu der Sorte Mann, deren Freundschaft sogar sehr viel gefährlicher sein konnte als die Feindschaft Gazanfers. Er bemerkte, dass auch ich ihn abzuschätzen versuchte, und kniff sein rechtes Auge bedrohlich zusammen. Als er mich weiter anstarrte, begriff ich, dass wir das Wer-sieht-zuerstweg-Spiel spielten. Typen wie er stehen auf dieses Spiel. Sie halten sich für etwas Besonderes, wenn jemand bei ihrer abstoßenden Fratze verlegen wird. Um ihm einen Gefallen zu tun, wandte ich meinen Blick nach oben. Aber gehässig, wie ich war, übertrieb ich bei der Bewegung, so, als erregte ein plötzlich ins Zimmer eindringender Vogel meine Aufmerksamkeit. Es sah schon urkomisch aus, als der Herr Staatsanwalt und Onur Çalışkan mich nachahmten, um den imaginären Vogel ebenfalls zu sehen.
Ich konnte mich nicht beherrschen und lachte los.
»Hat dieser Junge keine Eltern, Kommissar? Wie kann man denn einen Fünfjährigen allein herbestellen?«, fragte der Herr Staatsanwalt mit unverhohlenem Ärger.
Der arme Kommissar trat auf der Stelle, als müsste er dringend pinkeln, und suchte nach einer Antwort. Ich dachte, dass es besser sei, wenn er schwieg. Höchstwahrscheinlich war es egal, was er sagte, es würde den Staatsanwalt ohnehin nur noch mehr in Rage versetzen. Der hatte sich längst fest vorgenommen, ihm ordentlich eins auf den Deckel zu geben. »Meine Eltern sind Beamte wie Sie«, fuhr ich dazwischen. »Sie können nicht nach Lust und Laune der Arbeit fernbleiben.«
»Im Bericht ist der Arbeitgeber vermerkt. Wenn von Seiten der Staatsanwaltschaft keine Vorladung geschickt worden ist …«, schloss Onur Çalışkan erleichtert meine Steilvorlage mit einem Tor ab.
Der Staatsanwalt sah ein, dass er seinen grundlosen Zorn, der, wie ich vermutete, die Essenz seiner Existenz bildete, nicht an dem Kommissar auslassen konnte, und wandte sich umgehend an mich, um zum Thema zu kommen. »Du hast ausgesagt, dass du vor dem Mord jemanden auf der Straße hast vorbeirennen sehen«, sagte er mit einer Stimme, aus der eindeutig hervorging, dass er das für eine Lüge hielt.
»Stimmt«, bestätigte ich.
»Aber wer es war, weißt du nicht.«
»Stimmt.«
»Würdest du die Person wiedererkennen?«
»Ich glaube nicht.«
Er zog drei, vier Fotos unter dem Stapel Papiere hervor und warf sie vor mich. »War es einer von denen?«
Ich nahm die Fotos und betrachtete sie. Erkin, Koray, Gazanfer sowie zwei Personen, die ich nicht kannte. Nur Erkin lächelte. So posiert hatte er nämlich nicht auf der Wache, sondern in einem Fotostudio. »Vielleicht«, sagte ich und zuckte mit den Schultern.
»Du lügst«, meinte der Herr Staatsanwalt genau so, wie ich vermutet hatte. Das war der Satz, den er in seinem Leben wahrscheinlich am häufigsten verwendete.
Onur Çalışkan trat zu mir und legte
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