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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alper Canıgüz
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von den Şimşirs angekommen bist, geh rüber und stell dich auf das von Halis Deveci, dann siehst du sie.«
    Ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu glauben. »Gott zum Gruß«, sagte ich und schlug die entsprechende Richtung ein.
    »Junge!«, rief er hinter mir her. Ich drehte mich zu ihm um. »Braucht ihr Wasser?«
    »Machst du Witze? Der Mann ist noch nicht einmal unter der Erde. Und außerdem, nach dem Regen von heute Morgen, wozu braucht man da dein Wasser?«, sagte ich und setzte meinen Weg fort.
    Da kam doch dieser Bengel und hakte sich bei mir unter. »Ich lese auch aus dem Koran.«
    »Das brauchen wir nicht, Bruder. Wir haben unseren eigenen Familien-Imam.«
    Dennoch schien er mich überhört zu haben und begann, nach rechts und links schunkelnd, mit seiner Krähenstimme Koranverse zu zitieren. Noch immer hielt er meinen Arm fest umklammert. Ich befreite mich aus den Fängen des kleinen Wasserlieferanten-Imams und sagte: »Verschwinde.«
    Ich hatte mich fünf, zehn Meter entfernt, als ich ihn hinter mir herschreien hörte: »Ich werde auf eure Gräber spucken.«
    Zumindest seine Beschreibung stimmte. Ich musste nicht einmal auf das in der Tat monumentale Grab des ehrenwerten Bürgers der Stadt Siverek, des Vorbilds, guten Ehemannes und gewissenhaften Kurzwarenhändlers Halis Deveci klettern, um den prachtvollen Trauerzug mit den vielen Uniformierten zu sehen.
    Unter denen, die die Fatiha für die Seele des Verstorbenen rezitierten, waren neben Hicabi Beys baumlangen Söhnen der Krämer Yakup und seine Familie und noch einige Leute aus der Nachbarschaft, die ich kannte. Ich drängelte mich in die vorderen Reihen und begann die Gesichter der Leute zu studieren. Wenn der Mörder zufällig unter uns war, konnte er sich durch neurotische Mimik oder eine falsche Geste verraten. Eine erbärmliche Methode für einen Detektiv, klar, aber mir fiel nichts Besseres ein.
    Nachdem der Imam seine Rede beendet hatte, die er mit dem Arabischen vielleicht sehr zuträglichen, im Türkischen aber hochgradig absurd klingenden Betonungen gewürzt hatte, war nun die Bestattung von Hicabi Beys leblosem Körper an der Reihe. Der spindeldürre Bestatter warf den Spaten zur Seite und war sogleich zur Stelle, aber man stoppte ihn mit den Worten, dass das die Aufgabe derer sei, die dem Verstorbenen am nächsten stünden. Şemi Abi packte das Leichentuch, in welches der Körper eingewickelt war, der einstmals seinem Vater gehört hatte. Als am anderen Ende eine ganze Weile keiner zupackte, richteten sich alle Augen auf Rebi Abi, von dem die Erfüllung dieser Pflicht erwartet wurde. In dem Moment konnte man sehen, wie das Gesicht des jüngeren Sohns giftgrün anlief, ja manche vernahmen sogar ein kurzes Stöhnen, das seiner Kehle entwich. Der Gedanke daran, den Leichnam des Vaters haltend, ins Grab hinabzusteigen, hatte dem Armen eindeutig den Verstand geraubt. Gerade als alle zu der Überzeugung gelangt waren, dass er dieser Aufgabe nicht gewachsen sei – diese Überzeugung konnte ich nur vollstens unterstützen –, trat Rebi Abi vor und stieg in das Grab hinab. Beinahe wäre es ihm gelungen, uns alle zu beschämen. Allerdings weckte etwas unter seinen Füßen seine Aufmerksamkeit, er bückte sich, und als er sich wieder aufrichtete, konnten wir sehen, dass er einen riesigen Schädel in der Hand hielt. Nachdenklich betrachtete Hamlet Abi eine Weile den Totenkopf. Er schluckte. »Ma-maa!«, sagte er, schwankte vor und zurück und fiel dann wie ein Wolkenkratzer, dessen Fundamente man mit Dynamit gesprengt hatte, in der letzten Ruhestätte seines Vaters ohnmächtig in sich zusammen.
    Dem Geschrei und Gezeter konnte ich entnehmen, dass die Entscheidung getroffen worden war, Hicabi Bey in den Schoß seiner geliebten Frau zu legen, da die Lücke neben Necla Teyzes Ruhestätte nicht über die notwendige Breite für ein weiteres Grab verfügte. Auf diese Weise erfüllte man auch den letzten Willen des Verstorbenen. Ein Fettsack, der, wie ich vermutete, zur Friedhofsleitung gehörte, hatte den Bestatter am Kragen gepackt und schrie: »Mann, Junge, haben wir dir nicht gesagt, du sollst die Knochen ordentlich zusammenräumen?«
    »Chef, ich schwöre, ich hab gestern Abend nachgesehen, da war nichts …«, verfiel der Bestatter sogleich in den natürlichen Abstreitrhythmus.
    Hastig wurde Rebi Abi zur Seite gezerrt. Alte Damen versammelten sich um ihn und bemühten sich, ihn mit Kölnisch Wasser wieder zu Bewusstsein zu bringen. Allerdings gaben

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