Söhne und siechende Seelen
sie ein solches Gekreische von sich, dass der Arme, wäre er versehentlich zu sich gekommen, im Glauben, er sei gestorben und bei den Teufeln gelandet, vor lauter Angst den Verstand verloren hätte. Zum Glück gelang es Şemi Abi mit der geschätzten Unterstützung des Krämers Yakup, den Vater endlich zu beerdigen, um gleich darauf die Hexen zu vertreiben. Im Anschluss daran verpasste er seinem geliebten Bruder mit der Vorder- und Rückseite seiner Hand höchst entschlossen zwei harte Ohrfeigen. Unbestritten hatte die militärische Ausbildung dem Mann die Begabung verschafft, schnell zu entscheiden und flott in Aktion zu treten. Ich kann nicht leugnen, daran gedacht zu haben, dass auch die Annahme, Ohrfeigen, die einen munteren Mann niederstrecken, könnten auch einen bewusstlosen Mann wieder aufwecken, auf diese Ausbildung zurückzuführen ist. Die Tatsache, dass Rebi Abi sich nach ein-, zweimaligem Schnaufen an seinem Platz aufrichtete, bewies, wie trefflich sowohl Diagnose als auch Therapie ausgefallen waren. »Ich bin schuld, ich bin schuld«, jammerte der wieder erwachte leidende Sohn. In dem Moment kassierte er von seinem großen Bruder eine weitere Ohrfeige und wurde dann von einigen Polizisten in Paradeuniform auf den Rücksitz eines Autos verfrachtet.
Es war schon seltsam, aber dieses Vorkommnis hatte ganz plötzlich die bedrückte Atmosphäre vertrieben. Während Şemi Abi die Beileidsbekundungen entgegennahm, hatte man innerhalb der Gemeinde bereits mit fröhlichem Geflüster, ja sogar moderatem Klatsch über Hicabi Bey begonnen. Wer weiß, vielleicht hatte Rebi Abis Ohnmacht auch bei allen für ein Gefühl der Erleichterung gesorgt, dass alle genug getrauert hätten. Es schwirrten eine Menge Äußerungen über Themen wie Hicabi Beys Charakter, Vergangenheit, seine familiären Beziehungen und seine Ermordung bis hin zum Tod an und für sich durch die Gegend. Als eine der Frauen über Rebi Abis immerwährende Trotteligkeit schwafelte, sprang der Krämer Yakup, dessen Nähe zu dem verehrten Toten und seiner Familie offen zum Ausdruck kam, sofort für ihn in die Bresche. »Was soll er denn machen, der arme Junge? Die Mutter hat sich umgebracht, der Vater wurde von einem Verrückten ermordet … Das ist einfach zu viel!«
Ich spitzte meine Ohren. Rebi Abis Mutter hatte sich also umgebracht! Sofort begab ich mich zu dem Krämer. Wenn ich ihm die Frage stellte, die ich im Sinn hatte, würde er mich bestimmt nicht ernst nehmen, also zog ich es vor, mit seiner rechthaberischen Ader zu spielen. »Rebi Abis Mutter ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen«, sagte ich in meiner neunmalschlauen Art.
Der Krämer Yakup sah mich prüfend an und setzte das nervige Lachen derer auf, die den wahren Sachverhalt kannten. »Soll jeder weiterhin so denken. Sie ist aus dem dritten Stock mit dem Kopf zuerst auf den Bürgersteig gefallen, zack, ihr Kopf ist auseinandergekracht wie eine Diyarbakırer Wassermelone, aber …«
»Mann, Yakup, du bist vielleicht taktlos!«, meinte einer aus der Nachbarschaft.
Der Krämer Yakup war beleidigt und drehte sich nach vorne. Aber er war nicht der einzige Schwätzer und Tratscher in der Gemeinde. Eine der Hexen, die kurz zuvor bei Rebi Abi auf die Knie gegangen war, jammerte nun, ihr Kopftuch zurechtzupfend: »Ach, Necla Hanım, ach! Sie war eine so nette Frau. Und sie machte gefüllte Weinblätter, da konnte man sich die Finger danach lecken.« Aus dem Augenwinkel warf sie einen Blick auf Hicabi Beys Grab, das der Bestatter mittlerweile fast völlig mit Erde bedeckt hatte, und fuhr fort: »Man soll ja nicht schlecht über ihn reden, aber die arme Frau hat nicht wenig unter Hicabi Bey gelitten.«
Der Krämer Yakup, der mit Mühe zwei Sekunden den Mund gehalten hatte, tauchte wieder auf. »Ach, jetzt sind sie wieder vereint. Sie mögen beide im Paradies sein.«
Als ich mich von ihnen mit schnellen Schritten in Richtung Friedhofstor entfernte, waren all meine Zweifel restlos beseitigt. Sartre hatte recht. Die Hölle, das sind die anderen.
sechs
jeder buddhist vergöttert einen faschisten
Wie üblich war der Samstag wieder einmal verregnet. Nach einem späten Frühstück begann mein Vater ein Kreuzworträtsel nach dem anderen zu lösen, und meine Mutter stürzte sich auf die Wäsche. Wie die gesamte arbeitende Bevölkerung der Mittelschicht verbrachten sie ihre Arbeitstage damit, auf das Wochenende zu warten, um dann am Wochenende die Arbeit zu vermissen. Sie würden nicht einmal
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