Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alper Canıgüz
Vom Netzwerk:
begreifen, wie sie am Ende ihres Lebens angekommen wären. Der Sieg des Systems.
    Als keine Wäsche und keine Kreuzworträtsel mehr übrig waren, die noch zu waschen beziehungsweise zu lösen gewesen wären, stellte meine Mutter den Vorschlag in den Raum, gemeinsam Gönül Teyze zu besuchen, die drüben auf der europäischen Seite wohnte. Mein Vater, der sich prima mit ihrem Mann verstand, stimmte sofort zu. Doch für mich war die Aussicht auf die gesteigerte Anzahl an Erwachsenen in meiner Umgebung nicht zu ertragen. Sie davon zu überzeugen, dass sie mich besser zu Hause ließen, war nicht allzu schwierig.
    Nachdem ich mir ein paar Stunden unsinniges Zeug im Fernsehen angesehen hatte, stellte ich fest, dass der Regen nachgelassen hatte. Ich steckte meinen Dallas Gold in den Hosenbund und ging hinaus auf die Straße. Ich wusste, dass ich keinen von den Jungs antreffen würde. Am Wochenende ließen ihre Mütter sie nicht so leicht aus dem Haus. Die Väter sollten die Aufzucht ihrer Sprösslinge – die Garantie für ihre erlesenen Gene und die spätere Pflege – verfolgen können und dadurch ihr Sklavendasein in ihren Köpfen ein Quäntchen rechtfertigen. Ein feines Know-how, wie es nur den Frauen eigen ist. Ich mache ihnen allerdings keine Vorwürfe. Würden sich die Männer nicht derart freiwillig in dieses Sklaventum begeben, würde keine der weiblichen Taktiken fruchten.
    Ich ging direkt in den Garten von Yüksels Familie, streckte mich trotz der Nässe auf der Wiese aus und begann über den Mord nachzudenken. Ich war mir bewusst, dass meine Behauptung, der verrückte Ertan habe Hicabi Bey nicht getötet, völlig emotional bedingt war. Ich spreche allerdings nicht von einem Gefühl der Sorte: »Ich spüre, dass er nicht der Mörder ist.« Die Verantwortung für ein Verbrechen einem Verrückten aufzubürden machte es der Staatsgewalt nicht nur leicht, sondern passte ihr zugleich auch ins Konzept. »Der Mörder war sowieso ein Irrer« – den Fall mit diesem Satz abzuschließen kam ihnen sehr gelegen. Damit wollten sie andeuten, dass das System so perfekt war, dass man an dem Verstand eines jeden, der gegen die Gesetze dieses Systems verstieß, zweifeln musste. Und genau dieser Denkansatz brachte mich auf die Palme. Wer den Mord begangen hatte, war mir eigentlich egal.
    Die Menschen dazu zu verdammen, ihren Geist verfaulen zu lassen, oder so weit zu bringen, ihren Trost in Schnapsflaschen oder Traumwelten zu suchen, ist ein viel größeres Verbrechen, und den Verursachern wollte ich zu gern ihre Heuchelei und Oberflächlichkeit ins Gesicht schreien. Sie sollten verstehen, dass nicht die Verrückten, sondern die geistig Gesündesten imstande sind, bei Leuten ins Haus einzudringen und ihnen die Gurgel durchzuschneiden. Sie sollten wissen, dass ihre an beheizte Klobrillen gewöhnten Ärsche in Gefahr waren, sie sollten nachts nicht mehr ruhig schlafen können. Ich war ein von Hass erfülltes Monster. Je mehr ich feststellte, wie sehr mich der Hass zerfraß, desto mehr hasste ich mich selbst. Ich würde es ihnen heimzahlen.
    Ich wischte mir den Rotz an meinem Ärmel ab, dann stand ich auf und rannte in Richtung Güzelyayla. Völlig außer Atem pochte ich an die Tür der Wohnung Nummer vier. Ein ganz in Schwarz gekleidetes Mädchen von etwa sechzehn, siebzehn Jahren, mit blassem Gesicht und braunem Haar, öffnete mir die Tür. Ich sah, dass sie Mühe hatte, ihr Gleichgewicht zu halten. Die Alkoholfahne, die mir gleich darauf entgegenschlug, erklärte dies hinlänglich. Eine Weile betrachteten wir einander mit leeren Blicken. Dann sagte ich: »Ich hätte gern mit Koray Abi gesprochen.«
    »Koray ist nicht zu Hause. Du …« Sie versuchte zu fragen, was für ein Typ ich denn sei.
    »Ich bin der Grund dafür, dass die Polizei ihn festgenommen hat. Ich muss mit ihm reden. Wann kommt er denn?«
    Ihr Blick war derart leer, dass ich dachte, sie hätte bestimmt keine Ahnung von Koray Abis Festnahme und davon, dass Erkin Abi polizeilich gesucht wurde. »Er ist runter in den Laden«, lallte sie schulterzuckend. »Er ist bestimmt gleich zurück. Komm rein, wenn du willst.«
    Ich nahm ihre Einladung an und ging hinein. Sie bat mich in ein Zimmer, in dem sich außer einem einzelnen Sofa sonst nichts befand, das man als Sitzmöbel bezeichnen konnte. Da überall die Gardinen zugezogen waren, war es stockfinster, zudem hatte man seit zirka einhundert Jahren nicht mehr gelüftet. Am grässlichsten war der Krach, der aus der Musikanlage

Weitere Kostenlose Bücher