Söhne und siechende Seelen
wenig.«
Bevor ich durch die Tür trat, drehte ich mich zu meinem Freund, dem Polizisten, um. »Versprechen Sie mir etwas.«
»Was denn?«
»Dass Sie kündigen, falls Gazanfer mich umbringen sollte.«
Wieder dieses süffisante Lachen. »Du brauchst keine Angst zu haben. Gazanfer wird dir kein Haar krümmen.«
Noch bevor ich das Präsidium verließ, wurde mir klar, warum ich Sympathie für diesen halbschlauen Kommissar empfand. Er hatte etwas, das mich an Hakan erinnerte. Warum ich Sympathie für Hakan empfand, das allerdings wussten allein die Götter.
Ich muss gestehen, dass die Luft nach einem langen Regen, selbst wenn man mitten in der Großstadt wohnt, einen innerlich beflügelt. Es würde nicht lange dauern: Nach nur wenigen Wochen würde man den verrückten Ertan in die Hände von Psychiatern übergeben haben, damit sie seine Seele kastrierten; die Würmer hätten sich durch das Leichentuch gefuttert und wären zu Hicabi Beys sterblichen Überresten vorgedrungen; die Versetzungsanordnung meines Vaters wäre eingetroffen; und Gazanfers Köter hätten meinen Hintern zerfleischt. Während all dem hätte meine Mutter andauernd Wäsche gewaschen. Wer weiß, wie viele Maschinen?
Dennoch lief ich von dümmlichem Wohlgefallen – nennen wir es nicht Glück, sondern lieber so – beseelt und pfiff ein paar Takte des Werkes
Frühlingsklänge
des großen Meisters der klassischen chinesischen Musik, Wu Zhao-Ji. Nach einem halbstündigen Marsch stellte ich fest, dass meine Füße mich an den Eingang des Friedhofs getragen hatten. Das Freitagsgebet musste gerade vorbei sein. Wenn ich mich beeilte, so dachte ich, könnte ich den Trauerzug noch erreichen, der Hicabi Bey die letzte Ehre erwies, und drang in das Reich der Toten ein.
Mit seinen gepflegten Bäumen, den Marmorgrabsteinen, den Grabmälern und dem sich zwischen all dem hindurchschlängelnden blitzblanken Weg war der Friedhof wirklich ein angenehmer und besonderer Ort. Allerdings konnte ich nicht ganz nachvollziehen, warum um alles in der Welt man die Passfotos mancher Verblichener in ihre Grabsteine eingearbeitet hatte. Vor allem, weil man für die Darstellung der verehrten Toten in der Regel Jugendfotos verwendet hatte. Vielleicht bezweckte man damit, den respektlosen Passanten, die beim Anblick der Gräber dachten »die sind tot, aber ich lebe noch« und sich dabei von einer ungebührlichen Freude mitreißen ließen, zu zeigen, dass die Person, die dort lag, einst um ein Vielfaches besser zu leben imstande gewesen war als sie selbst. Vielleicht sollten diese Fotos, die aus Epochen stammten, in denen die besagten Personen den Gedanken an den Tod tief im Unbewussten vergraben hatten, uns auch eine Lektion erteilen und uns zeigen, was aus ihnen geworden war. Ich konnte nicht genau abschätzen, welches Problem die Leute hatten, die dieses System anwendeten, doch – warum sollte ich lügen? – weder erweckten diese nicht mehr existenten Gesichter bei mir irgendwelchen Respekt noch sagten sie mir Dinge wie »carpe diem«. Unter uns gesagt glaube ich nicht, dass die Toten deswegen eingeschnappt sein würden. Zu denken, dass sie das Leben so ernst nehmen, ist meines Erachtens schlichtweg ein bescheuerter Ansatz.
Der Friedhof war weitaus größer und die Anzahl der zu Bestattenden viel höher, als ich angenommen hatte. Derweil fiel mein Blick auf einen Jungen, etwa zwei, drei Jahre älter als ich, in verschlissenen Klamotten, der eine Gießkanne aus Plastik in der Hand hielt und sich an die Rocksäume der Grabbesucher heftete. Gegen eine milde Gabe bot er Bewässerungsdienste für vertrocknete Gräber an. Sofort ging ich zu ihm. »Hey, Kumpel!«
Er starrte mich an. Ich war kein Kunde. Ob ich wohl eine Konkurrenzfirma war? »Was willst du?«
»Ich bin zu einem Begräbnis eingeladen, aber ich bin zu spät. Hast du irgendwo eine große Gruppe gesehen? Wo auch Polizisten dabei waren.«
Als er das Wort »Polizist« hörte, wurde er unruhig und entfernte sich von mir. Ich rannte hinter ihm her. »Hey, Bruder, warte einen Augenblick.«
Er beachtete mich nicht. Nun, da ich mich der Detektivarbeit verschrieben hatte, wollte ich es auch richtig machen. Ich holte ein paar Münzen aus der Tasche und ließ sie in meiner Hand scheppern. Der Bursche blieb wie angewurzelt stehen. Nachdem er mir das Kleingeld abgeluchst hatte, gab er mir wild durch die Gegend fuchtelnd eine Wegbeschreibung. »Geh dem Weg nach. Geh an dem Familiengrab der Firdevs vorbei, und wenn du bei dem
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