Söhne und siechende Seelen
Vielleicht schlummerten hinter all diesem Unsinn für sie logische Beweggründe. Ich war voller Reue und Mitleid. Behutsam sank ich neben sie. Mittlerweile knabberte sie nicht mehr an ihren Fingernägeln, sondern geradewegs an ihren Fingern. An ihrem Seelenzustand waren neben ihrem Rausch die Missgeschicke, die sie in der Vergangenheit erlebt hatte, garantiert ebenso beteiligt. Die Nervensägen hatten eine langsame, psychedelische Melodie angeschlagen. Mittlerweile kam mir die Musik gar nicht mehr so übel vor. Der Mensch gewöhnt sich eben an alles. Ich nahm ihre Hand und zog sie zwischen ihren Zähnen weg. Ich war finster und gütig wie der Tod. »Erzähl mir von deinen Träumen.«
Sie zog die Nase hoch und klemmte meine Finger zwischen ihren Händen fest. Sie starrte in die Ferne und begann zu erzählen: »Ich heirate Koray, und Erkin … diese blonde Nutte. Beide Ehen verlaufen entsetzlich. Wir sind todunglücklich. Hin und wieder treffen wir uns. Wir reden über dies und das, wir lachen uns an, doch unsere Blicke erzählen uns die ganze Wahrheit. Etwa zehn Jahre später kommt Koray bei einem Motorradunfall ums Leben. Ich bin Anfang dreißig … Ich heirate Kayhan. Erkin ist inzwischen an die Spitze des Transportunternehmens seines Onkels getreten und sehr reich geworden. Von dieser Schlampe hat er sich getrennt und … er hat sich aufgemacht nach Tibet. Um Buddhist zu werden und die Wahrheit zu finden. Er hat immer gesagt, dass er das machen wird. Wir haben ihm nicht geglaubt. Aber siehst du, am Ende tut er, was er sagt. Meinetwegen … also dank mir. Ich bin mittlerweile reich. Ich schwimme im Geld und im Luxus. Meine Ehe ist allerdings noch schlimmer als die erste. Kayhan ist drogenabhängig. Mich gewöhnt er auch an das Zeug. Nach ein paar Jahren fängt er an, Prostituierte mit nach Hause zu bringen. Mein Schwiegervater hat wiederum ein Auge auf mich geworfen. Ekelhaft! Und eines Nachts vergewaltigt er mich wohl … Aber ich bin mir nie sicher. Denn in jener Nacht habe ich jede Menge Tabletten geschluckt, und meine Erinnerung verbirgt sich hinter einem Nebelschleier. Ich will glauben, dass ich nur einen Alptraum gesehen habe, doch die Blicke meines Schwiegervaters sagen mir, dass das alles wahr ist. Tag und Nacht krümme ich mich vor Migräne. Ich unternehme mehrere Selbstmordversuche, aber stets werde ich gerettet. So vergehen die Jahre. Und dann stirbt Kayhan. Mit fünfundfünfzig werde ich zum zweiten Mal Witwe.«
Ich wollte etwas sagen, doch ich hatte einen Knoten in der Zunge. Mir glühten die Ohren. Ich war mir nicht sicher, ob ich noch mehr ertragen können würde, doch zwischen ihrem Schluchzen und Rülpsen gab sie sich wie gefangen ihren sadomasochistischen Fantasien hin. »Als ich von Kayhans Beerdigung zurück bin, klingelt es an der Tür und vor mir steht er … Erkin. Zurück aus Tibet. Wir sehen uns an, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich sagt er zu mir: ›Du hast das Glück nicht finden können.‹ ›Und du nicht die Wahrheit‹, erwidere ich. Er schüttelt den Kopf und lächelt. ›Ich bin nicht dorthin gefahren, um die Wahrheit zu finden, sondern um sie zu vergessen‹, gibt er zurück. Er beugt sich vor und küsst mich. Doch ich erwidere den Kuss nicht. Da versteht er, dass er das nie wieder tun darf. Nach diesem Kuss allerdings habe ich nie wieder Kopfschmerzen. In jener Nacht rolle ich mich neben ihm ein und schlafe, während er meine Hand hält. Ich schlafe friedlich und fest. Ich lasse ihn nie wieder weg. Nach Jahren spazieren wir auf einem auf Trümmern angelegten Blumengarten, und er sagt mir Gedichte auf und erzählt Geschichten. Die Vergangenheit erwähnen wir niemals. Hin und wieder denken wir, wenn doch alles bloß anders gekommen wäre, und grämen uns. Und …« In dem Moment erlitt sie einen Weinkrampf und konnte nicht weitersprechen. Sie weinte sich aus, während sie meine vor Schreck schweißnasse Hand noch immer festhielt. Dann richtete sie ihre blutunterlaufenen, angsterfüllten Augen auf mich. »Erkin hat nichts damit zu tun.«
Wir hatten noch nicht zum Thema kommen können, aber nun war das Thema zu uns gekommen. Allerdings war ich vollkommen durcheinander. Ich schluckte und versuchte, meine fünf Sinne zusammenzunehmen. Ich wusste, dass jedes falsche Wort alles kaputt machen konnte. »Ich glaube dir.«
»Ach, wegen diesem Mädchen wird sein Leben zerstört. Unser Leben!«
»Wer ist dieses Mädchen?«
»Diese Schlampe. Die er angeblich liebt. Aber eigentlich liebt
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