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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alper Canıgüz
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anziehen.«
    »Du meine Güte, wie kommst du denn auf die Idee?«
    »Vor zwei Monaten ist Ruhan Bey hier dem Seligen zufällig über den Weg gelaufen. Da hab ich mitgekriegt, was sie so redeten.«
    ›Da hab ich meine Ohren ordentlich gespitzt‹, sollte es wohl besser heißen. »Und – hat Hicabi Bey ihn wieder an die Hand genommen?«
    »Mitnichten«, schüttelte Yakup den Kopf. »Er wurde total wütend auf Ruhan. Genau hier vor meiner Nase hat er ihn zur Schnecke gemacht. Wie er sich das Recht herausnehmen könnte, Staatseigentum zu besetzen und so. Immerhin war der Verblichene ein Mann des Gesetzes.«
    So ein Pech. Ausgerechnet als mein geduldiger Umgang mit Yakup Früchte zu tragen begann, wurde meine Befragung erneut durch die Intervention eines Kunden unterbrochen. »Ich will eine Schachtel Maltepe.«
    In diesem meinem kurzen Leben war ich schon öfter Zeuge geworden, wenn jemand nach Maltepe-Zigaretten verlangte, aber noch nie auf diese Art. Was für eine Stimme, und die Betonung! Kein Fluss hatte je ein Meer, kein Liebender je seine Angebetete derart begehrt. Der Mann verging förmlich vor Verlangen nach einer Maltepe. Während der Krämer Yakup unverzüglich in seinen Laden ging, um die Vermittlerrolle bei dieser ersehnten Zusammenkunft zu übernehmen, wandte ich meinen Blick zu dem Schmachtenden. Der Herr, der seinen schlanken Körper auf seinen Regenschirm gestützt hatte und einen eleganten schwarzen Regenmantel trug, war kein Unbekannter. Leider.
    »Hallo, junger Mann«, sagte Metin Bilgin steif und wirkte damit noch furchterregender als die Höllengeschöpfe in Ruhan Beys Keller. »Ich habe dich gesucht.«
    Abhauen oder kämpfen. Das war hier die Frage. Eine falsche Entscheidung, und die Evolution verspeist dich zum Frühstück.
    Bevor der Staatsanwalt das Päckchen Maltepe nahm, das Yakup ihm respektvoll hinhielt, hängte er sich seinen Schirm an den linken Arm. Dann öffnete er die Schachtel, klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. Während der Krämer Yakup und ich gemeinsam auf das über uns verhängte Urteil des Staatsanwalts warteten, blieb uns nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass die Nikotinmoleküle ihn ein wenig milder stimmten. Endlich blies Metin Bilgin den Rauch in die Luft und bezahlte bei Yakup. Der Krämer hatte bekommen, was er sich gewünscht hatte. Ich spürte, dass ich weniger Glück haben würde als er. »Lass uns ein paar Schritte gehen«, sagte der Staatsanwalt und wies mit dem Kopf in eine Richtung.
    Wir zwei erbitterten Gegner ließen den Krämer mit seinem Toyota, seinem Schuldenheft und seinen geheimen homosexuellen Fantasien allein und gingen los. Ich war derjenige, der die würdevolle Stille unterbrach. »So sollten Sie nicht weitermachen.«
    »Was willst du damit sagen?«, fragte der Staatsanwalt und hob eine Augenbraue. Mit meinem ersten Satz hatte ich ihn schockiert. Gleich würde er noch schockierter sein.
    »Wenn wir so weitermachen, kommen wir im Paris-Viertel heraus.«
    »Und?«
    »Das ist ein gefährlicher Ort, an dem extrem arme Menschen leben. Zu den wichtigsten Erwerbsquellen dieses beinahe ausnahmslos vorbestraften Volkes zählen Taschendiebstahl, Raub und Überfälle. Das Lieblingsspiel der Kinder ist, in benachbarte Viertel einzufallen und ihre Altersgenossen auszuplündern. Keiner riskiert einen Streit mit ihnen, weil sie alle mit vier Jahren anfangen, ein Springmesser mit sich zu führen. Sie sind alle ziemlich zugeknöpft. Soweit ich weiß, laufen ihre geschäftlichen Beziehungen zu anderen Vierteln ausschließlich über Gazanfer. Und den haben sie dreimal aufgespießt. Noch irgendwelche Fragen?«
    Machte sich da ein Grinsen auf Metin Bilgins Gesicht breit, oder kam mir das nur so vor? »Warum haben sie ein solches Viertel wohl Paris genannt?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht weil sie ein besonderes Faible für Baudelaire haben.«
    »Das heißt also, dass sie in ihrer Freizeit, die ihnen neben ihren Gaunereien bleibt, Gedichte lesen?«
    »Gedichte machen nicht satt«, sagte ich. »Ich sagte ja, sie sind bitterarm.«
    »Nicht jeder, der arm ist, wird zum Gauner.«
    »Und nicht jeder wird Baudelaire.«
    Metin Bilgin verzog das Gesicht und nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette. »In meinem ganzen Leben ist mir noch kein Kind begegnet, das so ein Schwätzer ist wie du.«
    Das Gespräch war nett, aber mittlerweile hatten wir die Grenze zum Paris-Viertel erreicht. Was versuchte er zu beweisen? Dass der Staat keinen Schritt

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