Söhne und siechende Seelen
furchterregend. Ich wusste, dass weitaus lächerlichere Behauptungen Menschen an den Galgen bringen konnten. Die sogenannte Gerechtigkeit ist nichts als eine Lüge. Menschen wurden nicht verurteilt, weil sie Straftaten begangen hatten, sondern weil Straftaten nicht begangen werden sollten. Das System fußte auf einer grausamen Abschreckung. Da wurden ein paar arme Schweine im Paris-Viertel fertiggemacht, und die anderen, die das sahen, begriffen, dass sie stillzusitzen hatten. Zum Schutz ihrer Macht richteten die Mächtigen Menschen zugrunde, ohne mit der Wimper zu zucken, und nannten dies gesellschaftliche Ordnung. Metin Bilgin konnte kraft seiner Macht in den Knast stecken, wen immer er wollte. Aus diesem Grund war es sinnlos, mit ihm zu diskutieren. »Was wollen Sie von mir?«
»Hör mir gut zu, Junge«, sagte er mit gekünstelter Zärtlichkeit. »Die Gerechtigkeit wird am Schluss alle Tatsachen ans Licht bringen. In einem Verfahren dürfte sich auch die Unschuld deines Vaters herausstellen, aber sei dir gewiss, dass dein Vater bis dahin viel Ärger haben wird. Bevor ich die Anklageschrift aufsetze, wollte ich mit dir reden, denn eine innere Stimme sagt mir, dass du etwas verheimlichst. Wenn du mir jetzt alles erzählst, wird später niemand unnötig leiden. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
›Mein Gott‹, entfuhr mir ein innerlicher Aufschrei. Man rächte sich doch für die Sünden der Väter an deren Kindern! Warum passierte in unserem Fall immer genau das Gegenteil? In diesem Stadium hatte es keinen Zweck mehr, zu gestehen, dass ich in Bezug auf den aus Hicabi Beys Haus Flüchtenden gelogen hatte; es würde wahrscheinlich alles noch viel schlimmer machen. Kurz erwog ich, ihm zu erzählen, was ich von Yeşim und dem Krämer Yakup erfahren hatte, ihm von den Monstern in Ruhan Beys Keller zu berichten und ihm den Film aus Hicabi Beys Fotoapparat auszuhändigen. Vielleicht könnte ich so den Hals meines Vaters retten. Letzten Endes hatte ich es mit einem Mann des Gesetzes zu tun, der den Mord dank seiner Autorität und Macht sehr viel schneller würde lösen können als ich. Da entdeckte ich, dass einige auf dem Bordstein sitzende Strolche uns in einer Mischung aus Verwunderung und Freude abcheckten. Könnten sie ein Ausweg aus meiner schwierigen Situation sein? Würden sie nicht eine Wohltat begehen und die Welt auf ewig von Metin Bilgin befreien, wenn ich einen kleinen Krawall anzettelte? Letzten Endes würden sie dabei sicher auch mich kaltmachen, aber im Hinblick auf die Vorteile, die sich daraus für die Welt ergäben, wäre dies auch noch ein zusätzlicher Gewinn.
»Weißt du was? Ich war früher genauso wie du«, sinnierte Metin Bilgin und wies mit der Schirmspitze in seine ferne Vergangenheit.
»Ein Schwätzer?«, fragte ich so bissig wie möglich.
»So voller Hass.«
»Das kann ich nicht glauben! Ein so liebevoller Mensch wie Sie?« Er spürte wohl, dass ich ihm eigentlich etwas hatte erzählen wollen, es mir im letzten Moment aber anders überlegt hatte. Damit ich ihm keine Lüge auftischen würde, auf der er mich festnageln könnte, hatte er einen letzten psychologischen Schachzug unternommen. Eigentlich gar kein schlechter Versuch. Wenn jemand, von dem man erwartet, dass er einen zerquetscht, einen auf einmal in den Arm nimmt, steht er einem näher als sonst irgendjemand auf der Welt. Die wichtigste Voraussetzung für Gehirnwäsche besteht zudem darin, im menschlichen Geist die Kategorien von Gut und Böse durcheinanderzubringen. Dass ich auf solche Tricks nicht hereinfalle, versteht sich von selbst.
»Die Welt erschien mir wie die Hölle und jeder Mensch wie ein Teufel.«
»Hat das, was Sie auf der juristischen Fakultät gelernt haben, zu einem Meinungsumschwung bei Ihnen geführt?«
Einer der Typen, an denen wir gerade vorbeigegangen waren, hatte sich an unsere Fersen geheftet, und zwar der Schmächtigste. Wenn die beiden anderen nicht knapp hinter ihm waren, würden sie in Kürze vor uns auftauchen.
»Ich habe meine Meinung nicht geändert«, sagte Metin Bilgin, als spräche er zu sich selbst. Dem Leuchten in seinen Augen nach gehörte unser Mann laut psychiatrischer Klassifikation Mazhar Osmans zu den hochgradig Geistesgestörten. »Ich habe nur gelernt, dass es sogar in der Hölle Regeln braucht. Vielleicht lässt sich der Teufel nicht zur Vernunft bringen, aber man kann ihn bestrafen. Um ihn von Gott unterscheiden zu können, sollte man ihn zumindest für das, was er
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