Söhne und Töchter des Feuers, Band Eins: Verbrannte Hoffnung (German Edition)
und seine Gemäuer bestätigt. Doch der tückische Appell an die Traditionen seiner Familie verfehlt ihr Ziel nicht.
„Wann werde ich mit meinen Studien beginnen?“
„Unverzüglich“, antwortet der Klostervater, „Du wirst den Rest des Tages in der Bibliothek und den morgigen Tag bei den Einhörnern verbringen.“
„Wie Ihr wünscht“, bestätigt Lithan zögernd die Anweisung von Yuthian.
„Ich wünsche dir viel Erfolg.“, Yuthian erhebt sich. Ohne weitere Worte der Verabschiedung kehrt Yuthian mit langsamen, leisen Schritten zurück ins Klostergebäude und hinterlässt einen verunsicherten Lithan. Nun muss sich dieser mit seinen Zweifeln und seiner tiefsten Ablehnung des von Yuthian verkörperten Glaubensgerüstes stellen. Zum ersten Mal überhaupt hat er tatsächlich Angst davor, seinen Geist für die Möglichkeit einer göttlichen Existenz zu öffnen.
Von dem strahlendblauen Himmel und der warmen, hell über dem Wald leuchtenden Sonne, die die letzten Tage fleißig auf das Kloster schien, ist nichts mehr geblieben. Der Himmel ist grau. Es hat in der Nacht geregnet. Die Luft ist feucht und klamm. Um keine nassen Füße zu bekommen, ist Lithan in festes, aber auch sehr enges Schuhwerk geschlüpft. Er kann in den wasserfesten, aber auch sehr knappen Schuhen kaum laufen. Vorsichtig läuft er über den schmalen, nassen Schotterweg, der um den saftig grünen Rasen herum führt. Gestern ist er den Einhörnern noch mit einer zögernden Faszination begegnet. Heute wirken die strahlend weißen Wesen, die erhaben zwischen den sich vereinzelt auf der Wiese erhebenden Bäumen stehen, auf ihn fremd und zwielichtig. Für Lithan verkörpern sie, durch den von Yuthian auferlegten Zwang, nun das, was er an dem Klostervater und dem religiösen Gesamtbild in diesem Kloster verachtet.
Nach seiner Unterhaltung mit Yuthian am gestrigen Tag hat Lithan in den darauf folgenden Stunden, wie es ihm vom Klostervater aufgetragen wurde, in der kleinen, staubigen und mit einer Unmenge an alten, teilweise zerfallenen Büchern der Bibliothek des Klosters verbracht. Diese waren, ohne ein für Lithan erkennbares System, stapelweise in kleine, wackelige und teilweise schon durchgebrochene Regale aufgestapelt. Zuerst nahm sich Lithan die weniger umfangreichen Werke zur Hand und stieß schnell auf seitenlange Passagen und Kapitel über die Rolle der Einhörner in der Religion der Hurth. Geschichten aus Mythen und Legenden bildeten dabei den größten Teil des Geschriebenen.
Die Botschaft war in den zahllosen Büchern, die Lithan an diesem Nachmittag in seinen Händen hielt, ausnahmslos dieselbe: Die Einhörner und ihre Macht sind als göttlich anzusehen und von jedem Gläubigen als Gottes gleichgestellte Abgesandte anzuerkennen. Verpackt in endlose, pathetische und nur wenig spannende Abenteuer war dies für Lithan keine sonderlich neue Erkenntnis. Er suchte nach Informationen über die Einhörner als lebende und atmende Wesen Vylithiens, die mehr sind, als das, was die Hurth in ihnen sehen. Kein Wort. Nichts.
Lithan war überrascht. Zunächst konnte sich Lithan nicht vorstellen, dass es in all den Büchern nichts anderes über die Einhörner zu berichten gab. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr passte dies in seine bereits gefestigte Meinung über den organisierten Glauben an eine göttliche Macht. Für Yuthian und andere Gläubige waren und sind die Einhörner mächtige, bedeutende Symbole in ihrer Religion. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn Lithan also etwas mehr über die Einhörner als vollständige Lebewesen herausfinden möchte, muss er sich ihnen direkt stellen. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass es nichts über diese Wesen zu berichten gibt, weil diese ihre Geheimnisse mit der Außenwelt nicht teilen. Die Faszination für die Einhörner, so ungern er sie anderen gegenüber oder sich selbst auch zugeben mag, hat seit deren Ankunft Besitz von Lithan ergriffen. Vorsichtig tastet er mit seinem rechten Fuß den Rasen ab, während er an der äußeren Begrenzung der feuchten Wiese steht. Er zweifelt etwas an der Qualität seines Schuhwerkes. Seine Füße bleiben jedoch trocken.
„Glück muss man haben“, flüstert er zu sich selbst.
Während er mit zurückhaltenden, noch nicht völlig von der Qualität seiner Schuhe überzeugten Schritte über den klammen Rasen läuft, schaut er mit gesenktem, schüchternem Blick auf die Einhörner. Diese scheinen sein Näherkommen jedoch nicht zu bemerken oder ignorieren ihn.
Weitere Kostenlose Bücher