Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
verloren hast. Ich werde mir alle Mühe geben, um dir beim Suchen zu helfen. Ich bin zwar weit von zu Hause weg, aber ich habe doch noch die eine oder andere helfende Hand in der alten Heimat. (Wenn ich den Zehner finde, lege ich ihn in dein Geburtstagsgeschenk.)
Grüße von Papa, der das Gefühl hat, schon zu der langen Heimreise aufgebrochen zu sein
Sofie hatte die Karte gerade gelesen, als die Stunde beendet war. Wieder tobte ein wilder Sturm von Gedanken durch ihren Kopf.
Auf dem Schulhof wartete wie immer Jorunn auf sie. Auf dem Heimweg öffnete Sofie ihre Schultasche und zeigte ihrer Freundin die Postkarte.
»Wann ist die abgestempelt?«, fragte Jorunn.
»Bestimmt am 15. Juni ...«
»Nein, warte mal ... hier steht 30.5.1990.«
»Das war gestern ... also am Tag nach dem Unglück im Libanon.«
»Ich glaube ja nicht, dass eine Postkarte vom Libanon bis Norwegen nur einen Tag braucht«, überlegte Jorunn.
»Jedenfalls nicht bei dieser Adresse: ›Hilde Møller Knag, c/o Sofie Amundsen, Schule Furulia ...‹«
»Meinst du, die ist mit der Post gekommen? Und der Lehrer hat sie dir einfach ins Heft gelegt?«
»Keine Ahnung. Und ich weiß auch nicht, ob ich mich zu fragen traue.«
Mehr redeten sie nicht über die Postkarte.
»Ich mache am Johannisabend ein großes Gartenfest«, erzählte Sofie.
»Mit Jungs?«
Sofie zuckte die Schultern.
»Die Allerblödesten brauchen wir ja nicht einzuladen.«
»Aber du lädst doch Jørgen ein?«
»Wenn du willst. Ein Eichhörnchen macht sich doch gar nicht schlecht auf einem Gartenfest. Vielleicht lade ich ja auch Alberto Knox ein.«
»Du spinnst doch total.«
»Weiß ich.«
So weit kamen sie, dann trennten sie sich beim Supermarkt.
Als Erstes hielt Sofie im Garten nach Hermes Ausschau, als sie nach Hause kam. Und heute lungerte er wirklich zwischen den Apfelbäumen herum.
»Hermes!«
Der Hund blieb für einen Moment still stehen. Sofie wusste genau, was im Laufe dieser Sekunde vor sich ging. Der Hund hatte sie rufen hören, erkannte ihre Stimme wieder und beschloss, nachzusehen, ob sie dort war, woher das Geräusch gekommen war. Erst jetzt entdeckte er sie und beschloss, auf sie zuzustürzen. Seine vier Beine wirbelten los wie Trommelstöcke.
Das war ganz schön viel für eine einzige Sekunde.
Er kam auf sie zugestürzt, wedelte wild mit dem Schwanz und sprang an ihr hoch.
»Braver Hund, Hermes! Na, na ... nein, nicht lecken, verstehst du. So, sitz ... so, ja!«
Sofie schloss die Haustür auf. Jetzt tauchte auch Sherekan aus den Büschen auf. Das fremde Tier war dem Kater ein bisschen unheimlich. Aber Sofie stellte ihm Futter hin, tat den Vögeln Körner ins Näpfchen, legte der Schildkröte ein Salatblatt hin und schrieb ihrer Mutter einen Zettel.
Sie schrieb, dass sie Hermes nach Hause bringen wolle und anrufen würde, wenn sie vor sieben nicht zu Hause sein konnte.
Und dann wanderten sie durch die Stadt. Diesmal hatte Sofie Geld mitgenommen. Sie spielte mit dem Gedanken, zusammen mit Hermes den Bus zu nehmen, aber dann fiel ihr ein, dass sie ja nicht wusste, ob das Alberto recht wäre.
Als sie hinter Hermes herging, überlegte sie sich, was ein Tier ist. Was war der Unterschied zwischen einem Hund und einem Menschen? Sie wusste noch, was Aristoteles dazu gesagt hatte. Er erklärte, dass Menschen und Tiere natürliche lebendige Wesen mit vielen wichtigen Gemeinsamkeiten seien. Aber es gebe auch einen wesentlichen Unterschied zwischen einem Menschen und einem Tier, nämlich die Vernunft.
Wie konnte er so sicher sein, dass es diesen Unterschied gab?
Demokrit wiederum hatte keinen großen Unterschied zwischen Menschen und Tieren gesehen, da beide aus Atomen zusammengesetzt seien. Er glaubte auch nicht, dass Menschen oder Tiere unsterbliche Seelen hätten. Er glaubte, auch die Seele sei aus kleinen Atomen aufgebaut, die beim Tod in alle Richtungen auseinander wirbelten. Die Seele des Menschen war für ihn also untrennbar mit dem Gehirn verbunden.
Aber wie konnte die Seele aus Atomen bestehen? Die Seele konnte man ja schließlich nicht anfassen wie alle anderen Körperteile. Sie war etwas »Geistiges«.
Sie hatten den Marktplatz überquert und näherten sich der Altstadt. Als sie die Stelle erreichten, wo Sofie den Zehner gefunden hatte, senkten sich ihre Blicke instinktiv zu Boden. Und dort – genau dort, wo sie sich schon einmal nach einem Zehnkronenschein gebückt hatte – lag jetzt, mit dem Bild nach oben, eine Ansichtskarte. Das Bild zeigte
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