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Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie

Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie

Titel: Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Aber nun fand sie weder Hildegard noch Sophia. War das nicht typisch? Kaum ging es um Frauen oder etwas Weibliches, schon war das Lexikon so nichts sagend wie ein Mondkrater. Ob irgendein Männerverein die Lexika zensierte?
    Hildegard von Bingen war Predigerin, Schriftstellerin, Ärztin, Botanikerin und Naturforscherin gewesen. Und außerdem war sie »vielleicht ein Beispiel dafür, dass Frauen im Mittelalter oft praktischer – ja, und wissenschaftlicher – waren als Männer«. Aber im Lexikon stand keine Silbe über sie. Eine Schande!
    Hilde hatte noch nie davon gehört, dass Gott auch eine »weibliche Seite« oder eine »Mutternatur« hatte. Und diese Seite hieß also Sophia – aber auch sie war den Lexikonmachern kein Gramm Druckerschwärze wert.
    Das am nächsten Liegende, was sie im Lexikon fand, war die Kirche Hagia Sophia in Konstantinopel. »Hagia Sophia« bedeutete »Heilige Weisheit«. Eine Hauptstadt und zahllose Königinnen waren nach dieser »Weisheit« benannt, aber im Lexikon stand kein Wort davon, dass diese Weisheit weiblich war. Wenn das keine Zensur war ...
    Hilde las weiter und fand, dass Sofie ihr tatsächlich »erschien«. Sie glaubte die ganze Zeit, das Mädchen mit den schwarzen Haaren vor sich sehen zu können ...
    Als Sofie nach Hause kam, nachdem sie fast die ganze Nacht in der Marienkirche verbracht hatte, trat sie vor den Messingspiegel, den sie aus der Hütte im Wald mitgebracht hatte.
    In scharfen Konturen sah sie ihr eigenes blasses Gesicht, umkränzt von den schwarzen Haaren, die für keine andere Frisur als die natürlichen ›glatt fallenden Haare‹ taugten. Aber unter oder hinter diesem Gesicht spukte noch das Gesicht einer anderen.
    Plötzlich zwinkerte die Fremde im Spiegel energisch mit beiden Augen. Sie schien signalisieren zu wollen, dass es sie auf der anderen Seite des Spiegels wirklich gab. Es dauerte nur wenige Sekunden. Dann war sie verschwunden.
    Wie oft hatte Hilde wohl schon vor dem Spiegel gestanden und irgendwie nach dem Bild einer anderen gesucht? Aber woher konnte ihr Vater das wissen? Und hatte sie nicht auch nach einer Dunkelhaarigen Ausschau gehalten? Ihre Urgroßmutter hatte den Spiegel doch einer Zigeunerin abgekauft ...
    Hilde spürte, dass ihre Hände zitterten, als sie den großen Ordner umfasste. Sie war überzeugt davon, dass es Sofie wirklich irgendwo »auf der anderen Seite« gab.
    Jetzt träumte Sofie von Hilde und Bjerkely. Hilde konnte sie weder sehen noch hören, aber dann – ja, dann fand Sofie auf dem Steg Hildes Goldkreuz. Und dieses Goldkreuz – mit Hildes Initialen und allem – lag in Sofies Bett, als sie aus ihrem Traum erwachte.
    Hilde musste nachdenken. Sie hatte doch wohl nicht auch noch ihr Goldkreuz verloren? Sie ging zur Kommode und nahm ihren Schmuckkasten heraus. Das Goldkreuz – das ihre Großmutter ihr zur Taufe geschenkt hatte – war verschwunden!
    Da hatte sie doch wirklich dieses Schmuckstück auch noch verschusselt! Na gut! Aber wie konnte ihr Vater das wissen, wo sie es nicht einmal selber bemerkt hatte?
    Und noch etwas: Sofie hatte ganz klar geträumt, dass Hildes Vater aus dem Libanon zurückgekommen war. Aber bis dahin dauerte es doch noch eine ganze Woche. Hatte Sofie einen prophetischen Traum gehabt? Meinte der Vater, wenn er nach Hause kam – dann würde auf irgendeine Weise auch Sofie da sein? Er hatte etwas davon geschrieben, dass sie eine neue Freundin finden würde ...
    In einer glasklaren, aber auch ungeheuer kurzen Vision war Hilde davon überzeugt, dass Sofie mehr war als nur Papier und Druckerschwärze. Es gab sie!

Die Aufklärung
    ... von der Nadelherstellung bis zum Kanonenguss ...
    Hilde hatte mit dem Kapitel über die Renaissance angefangen, aber jetzt hörte sie unten ihre Mutter ins Haus kommen. Sie sah auf die Uhr. Es war vier.
    Ihre Mutter kam die Treppe hochgestürzt und riss die Tür auf.
    »Warst du nicht in der Kirche?«
    »Doch, sicher.«
    »Aber ... was hast du denn dabei angehabt?«
    »Dasselbe wie jetzt.«
    »Dein Nachthemd?«
    »Mmm ... ich war in der Marienkirche.«
    »In der Marienkirche?«
    »Das ist eine alte Steinkirche aus dem Mittelalter.«
    »Hilde!«
    Hilde ließ den Ordner auf ihre Knie sinken und sah zu ihrer Mutter hoch.
    »Ich habe total die Zeit vergessen, Mama. Tut mir Leid, aber versteh doch, ich lese etwas total Spannendes.«
    Jetzt musste die Mutter lächeln.
    »Das ist ein magisches Buch«, fügte Hilde hinzu.
    »Ja, ja. Und noch einmal: Herzlichen Glückwunsch zum

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