Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Raum aufzufassen?«
»Gewissermaßen, ja. Was wir sehen, hängt ja ansonsten davon ab, ob wir in Indien oder Grönland aufwachsen. Aber überall erleben wir die Welt als etwas in Zeit und Raum. Das können wir im Voraus sagen.«
»Aber existieren Zeit und Raum nicht außerhalb unserer selbst?«
»Nein. Oder jedenfalls ist das nicht das Entscheidende. Kant erklärt, dass Zeit und Raum zum menschlichen Leben selber gehören. Zeit und Raum sind vor allem Eigenschaften unseres Bewusstseins und nicht Eigenschaften der Welt.«
»Das ist eine ganz neue Sichtweise.«
»Das Bewusstsein des Menschen ist also keine passive ›Tafel‹, die nur Sinneseindrücke von außen registriert. Es ist eine kreativ formende Instanz. Das Bewusstsein selber trägt dazu bei, unsere Auffassung der Welt zu prägen. Du kannst das vielleicht damit vergleichen, was passiert, wenn du Wasser in einen Glaskrug gießt. Dann formt sich das Wasser entsprechend der Form der Kanne. So fügen sich auch die Sinneseindrücke nach unseren ›Formen der Anschauung‹.«
»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.«
»Kant behauptet, dass sich nicht nur das Bewusstsein nach den Dingen richtet. Die Dinge richten sich auch nach dem Bewusstsein. Kant selber bezeichnete das als die ›kopernikanische Wende‹ in der Frage nach der menschlichen Erkenntnis. Damit meinte er, dass diese Überlegung ebenso neu und gegenüber der Tradition radikal anders war wie Kopernikus’ Behauptung, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt.«
»Ich verstehe jetzt, was er damit gemeint hat, dass sowohl Rationalisten als auch Empiriker ein bisschen Recht gehabt haben. Die Rationalisten hatten gewissermaßen die Bedeutung der Erfahrung vergessen und die Empiriker hatten nicht sehen wollen, dass unsere Vernunft unsere Auffassung der Welt prägt.«
»Auch das Kausalgesetz – von dem Hume geglaubt hatte, die Menschen könnten es nicht erfahren – ist laut Kant Bestandteil der menschlichen Vernunft.«
»Erklär mir das!«
»Du weißt doch noch, dass Hume behauptet hat, wir erlebten nur aufgrund unserer Gewohnheit einen notwendigen Kausalzusammenhang hinter allen Prozessen in der Natur. Denn Hume meinte, wir könnten nicht empfinden, dass die schwarze Billardkugel die Ursache dafür ist, dass sich die weiße Billardkugel in Bewegung setzt. Deshalb könnten wir auch nicht beweisen, dass die schwarze Kugel die weiße immer in Bewegung setzen wird.«
»Das weiß ich noch.«
»Aber gerade das, was wir laut Hume nicht beweisen können, genau das betrachtet Kant als Eigenschaft der menschlichen Vernunft. Das Kausalgesetz gilt immer und absolut, einfach weil die menschliche Vernunft alles, was geschieht, als Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung betrachtet.«
»Wieder würde ich meinen, dass das Kausalgesetz in der Natur und nicht in uns Menschen liegt.«
»Kant sagt, dass es in uns liegt. Er stimmt Hume darin zu, dass wir nicht sicher wissen können, wie die Welt ›an sich‹ ist. Wir können nur wissen, wie die Welt ›für mich‹ ist – und also für alle Menschen. Der Unterschied, den Kant zwischen den ›Dingen an sich‹ und den ›Dingen für uns‹ macht, ist sein wichtigster Beitrag zur Philosophie. Wie die Dinge ›an sich‹ sind, können wir nie ganz sicher erfahren. Wir können nur wissen, wie die Dinge sich für uns ›zeigen‹. Zum Ausgleich können wir ohne jede Erfahrung sagen, wie die Dinge von der menschlichen Vernunft aufgefasst werden.«
»Stimmt das?«
»Ehe du morgens aus dem Haus gehst, kannst du nicht wissen, was du an diesem Tag sehen oder erleben wirst. Aber du kannst wissen, dass du das, was du siehst oder erlebst, als Ereignisse in Zeit und Raum auffassen wirst. Du kannst dir außerdem sicher sein, dass das Kausalgesetz gilt, einfach, weil du es als Teil deines Bewusstseins in dir trägst.«
»Aber wir könnten auch anders geschaffen sein?«
»Ja, wir könnten einen anderen Sinnesapparat haben. Und wir könnten dann auch ein anderes Zeitgefühl und ein anderes Raumerleben haben. Wir könnten außerdem so beschaffen sein, dass wir nicht nach den Ursachen für die Ereignisse in unserer Umgebung suchen.«
»Hast du ein Beispiel?«
»Stell dir eine Katze vor, die im Zimmer auf dem Boden liegt. Stell dir dann vor, dass ein Ball ins Zimmer rollt. Was macht dann die Katze?«
»Das habe ich schon oft ausprobiert. Die Katze läuft hinter dem Ball her.«
»Ja. Und nun stell dir vor, dass du statt der Katze im Zimmer sitzt. Wenn du
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