Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Professor angestellt war. Er war das, was wir oft als einen ›Fachphilosophen‹ bezeichnen.«
»Fachphilosoph?«
»Das Wort ›Philosoph‹ wird heute in zwei leicht unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Unter einem Philosophen verstehen wir vor allem jemanden, der versucht, seine eigenen Antworten auf die philosophischen Fragen zu finden. Aber ein Philosoph kann auch Experte für die Geschichte der Philosophie sein, ohne notwendigerweise eine eigene Philosophie auszuarbeiten.«
»Und Kant war so ein Fachphilosoph?«
»Er war beides. Wenn er nur ein tüchtiger Professor gewesen wäre – also ein Experte für die Gedanken anderer –, hätte er keinen so wichtigen Platz in der Geschichte der Philosophie gefunden. Aber es ist auch wichtig, dass Kant in der Tat die philosophische Tradition kannte wie kaum ein anderer. Er war mit Rationalisten wie Descartes und Spinoza ebenso vertraut wie mit Empirikern wie Locke, Berkeley und Hume.«
»Ich habe doch gesagt, du sollst mit Berkeley aufhören.«
»Wir erinnern uns, dass die Rationalisten meinten, die Grundlage aller menschlichen Erkenntnis liege im Bewusstsein des Menschen. Und wir wissen auch noch, dass die Empiriker alles Wissen über die Welt aus der Sinneserfahrung ableiten wollten. Hume hatte außerdem darauf hingewiesen, dass es klare Grenzen dafür gibt, welche Schlussfolgerungen wir mit Hilfe unserer Sinneseindrücke ziehen können.«
»Und wem stimmte Kant denn nun zu?«
»Er meinte, alle hätten ein bisschen Recht, aber er fand auch, dass alle sich ein bisschen irrten. Die Frage jedenfalls, die sie alle beschäftigte, war, was wir über die Welt wissen können. Das war das gemeinsame philosophische Projekt aller Philosophen nach Descartes. Zwei Möglichkeiten standen zur Debatte: Ist die Welt genau so, wie wir sie empfinden – oder so, wie sie sich unserer Vernunft darstellt?«
»Und was meinte Kant?«
»Kant meinte, dass sowohl die Empfindungen als auch die Vernunft eine wichtige Rolle spielen, wenn wir die Welt erfahren. Und er vertrat die Auffassung, die Rationalisten hielten die Vernunft für zu wichtig und die Empiriker hätten zu einseitig auf die sinnliche Erfahrung gesetzt.«
»Wenn du nicht bald ein gutes Beispiel bringst, dann bleibt das alles nur Gerede.«
»Im Ausgangspunkt stimmt Kant Hume und den Empirikern darin zu, dass wir alle unsere Kenntnisse den Sinneserfahrungen verdanken. Aber – und hier reicht er den Rationalisten die Hand – auch in unserer Vernunft liegen wichtige Voraussetzungen dafür, wie wir die Welt um uns herum auffassen. Es gibt demnach gewisse Bedingungen in uns selber, die unsere Auffassung der Welt mitbestimmen.«
»Und das soll ein Beispiel sein?«
»Wir machen lieber eine kleine Übungsaufgabe. Kannst du die Brille vom Tisch dort drüben holen? So, ja. Und jetzt setz sie dir auf.«
Sofie setzte sich die Brille auf die Nase. Alles um sie herum färbte sich nun rot. Die hellen Farben wurden hellrot, die dunklen dunkelrot.
»Was siehst du?«
»Ich sehe genau dasselbe wie vorher, nur ist alles rot.«
»Das liegt daran, dass die Brillengläser festlegen, wie du die Wirklichkeit erlebst. Alles, was du siehst, ist Teil einer Welt außerhalb deiner selber; aber wie du alles siehst, hängt auch mit den Brillengläsern zusammen. Du kannst ja nicht behaupten, die Welt sei rot, auch wenn sie dir im Moment so erscheint.«
»Nein, natürlich nicht ...«
»Wenn du jetzt durch den Wald gingst – oder wenn du zu Hause in der Kapitänskurve wärst –, würdest du alles sehen, was du immer schon gesehen hast. Aber was immer du auch sehen würdest, es wäre rot.«
»Solange ich nicht die Brille abnehme, ja.«
»Die Brille ist die Voraussetzung dafür, wie du die Welt siehst. Und genauso, meinte Kant, liegen auch Voraussetzungen in unserer Vernunft, die alle unsere Erfahrungen prägen.«
»Von was für Voraussetzungen ist hier die Rede?«
»Egal, was wir sehen, vor allem werden wir es als Phänomene in Zeit und Raum auffassen. Kant bezeichnete Zeit und Raum als die beiden ›Formen der Anschauung‹ des Menschen. Und er betont, dass diese beiden Formen in unserem Bewusstsein vor jeglicher Erfahrung kommen. Das bedeutet, dass wir, ehe wir etwas erfahren, wissen können, dass wir es als Phänomen in Zeit und Raum auffassen werden. Wir sind unfähig, könnte man sagen, die Brillengläser der Vernunft abzusetzen.«
»Er meinte also, dass es eine angeborene Eigenschaft von uns Menschen ist, die Dinge in Zeit und
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