Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Fragen zu finden. Aber wir haben keinen festen Stoff, in den wir hineinbeißen könnten; wir erhalten niemals sichere Antworten, weil die Vernunft im Leerlauf rennt.«
»Danke, genau dieses Gefühl kenne ich sehr gut.«
»Bei den großen Fragen, die die Wirklichkeit im Ganzen angehen, werden immer zwei genau entgegengesetzte Standpunkte gleich wahrscheinlich und gleich unwahrscheinlich sein.«
»Beispiele bitte.«
»Es ist genauso sinnvoll zu sagen, die Welt muss einen Anfang in der Zeit haben, wie zu sagen, dass sie keinen solchen Anfang hat. Die Vernunft kann zwischen den beiden Möglichkeiten nicht entscheiden, weil sie sie beide nicht ›fassen‹ kann. Wir können natürlich behaupten, dass es die Welt immer schon gegeben hat – aber kann etwas immer schon existiert haben, ohne dass es je einen Anfang hatte? Und nehmen wir stattdessen den entgegengesetzten Standpunkt ein und sagen, dass die Welt irgendwann entstanden sein muss – dann muss sie doch aus dem Nichts entstanden sein, sonst könnten wir nur von einem Übergang von einem Zustand in den anderen sprechen. Kann etwas aus null und nichts entstehen, Sofie?«
»Nein, beide Möglichkeiten sind gleich unfassbar. Und doch muss eine richtig und die andere falsch sein.«
»Du weißt aber noch, dass Demokrit und die Materialisten erklärt hatten, dass die Natur aus kleinsten Teilchen bestehen müsse, aus denen alles zusammengesetzt ist. Andere – zum Beispiel Descartes – glaubten, sich die ausgedehnte Wirklichkeit in immer noch kleinere Teile aufgeteilt vorstellen zu können. Aber wer von beiden hatte Recht?«
»Beide ... keiner.«
»Weiter hatten viele Philosophen die Freiheit des Menschen als eine seiner wichtigsten Eigenschaften bezeichnet. Gleichzeitig sind uns Philosophen begegnet – zum Beispiel die Stoiker und Spinoza –, die erklärten, alles in der Welt geschehe allein nach den notwendigen Gesetzen der Natur. Auch hier meinte Kant, die Vernunft des Menschen könne kein sicheres Urteil fällen.«
»Das ist genauso vernünftig und unvernünftig, wie beides zu behaupten.«
»Und schließlich können wir mit unserer Vernunft auch nicht die Existenz Gottes beweisen. Hier hatten die Rationalisten – zum Beispiel Descartes – zu beweisen versucht, dass es einen Gott geben müsse, einfach deshalb, weil wir eine Vorstellung von einem vollkommenen Wesen haben. Andere – zum Beispiel Aristoteles und Thomas von Aquin – waren der Ansicht, es müsse einen Gott deshalb geben, weil alles eine erste Ursache haben muss.«
»Und was meinte Kant?«
»Er verwarf beide Gottesbeweise. Weder Vernunft noch Erfahrung haben eine sichere Grundlage für die Behauptung, dass es einen Gott gibt. Für die Vernunft ist es vielmehr wahrscheinlich und unwahrscheinlich zugleich, dass es einen Gott gibt.«
»Aber du hast zuerst gesagt, dass Kant die Grundlage des christlichen Glaubens retten wollte.«
»Ja, und er lässt tatsächlich Raum für die Religion, dort nämlich, wo unsere Erfahrung und unsere Vernunft nicht hinreichen. Genau diesen Raum kann der religiöse Glaube ausfüllen.«
»Und so hat er das Christentum gerettet?«
»So kannst du das ausdrücken. Dabei sollten wir uns merken, dass Kant Protestant war. Seit der Reformation war es ein Charakterzug des protestantischen Christentums, dass es auf dem Glauben beruht. Die katholische Kirche vertraute seit Beginn des Mittelalters eher darauf, dass die Vernunft eine Stütze für den Glauben sein kann.«
»Ich verstehe.«
»Aber Kant ging etwas weiter als nur bis zu der Feststellung, dass diese äußersten Fragen dem Glauben des Menschen überlassen werden müssen. Er hielt die Voraussetzung, dass der Mensch eine unsterbliche Seele hat, dass es einen Gott gibt und dass der Mensch einen freien Willen hat , für eine mehr oder weniger unerlässliche Voraussetzung der Moral des Menschen.«
»Das ist ja fast wie bei Descartes. Erst überlegt er sehr kritisch, was wir überhaupt verstehen können. Und dann schmuggelt er Gott und alles Mögliche durch die Hintertür wieder herein.«
»Aber im Gegensatz zu Descartes betont Kant ausdrücklich, dass nicht die Vernunft ihn dorthin gebracht hat, sondern der Glaube. Er selbst bezeichnete den Glauben an eine unsterbliche Seele, ja, sogar an einen Gott und an den freien Willen des Menschen, als praktische Postulate .«
»Und das bedeutet?«
»Etwas zu postulieren bedeutet, etwas zu behaupten, das sich nicht beweisen lässt. Unter einem praktischen Postulat versteht
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