Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
plötzlich siehst, dass ein Ball angerollt kommt, läufst du ihm dann auch sofort hinterher?«
»Zuerst drehe ich mich um und sehe nach, woher der Ball kommt.«
»Ja, weil du ein Mensch bist, wirst du unweigerlich die Ursache jedes Ereignisses suchen. Das Kausalgesetz ist also ein Teil deiner Konstitution.«
»Stimmt das wirklich?«
»Hume hatte erklärt, dass wir die Naturgesetze weder empfinden noch beweisen können. Kant ließ das keine Ruhe. Aber er glaubte, die absolute Gültigkeit der Naturgesetze beweisen zu können, indem er zeigte, dass wir in Wirklichkeit über Gesetze der menschlichen Erkenntnis reden.«
»Würde sich auch ein kleines Kind umsehen, um festzustellen, wer den Ball angestoßen hat?«
»Vielleicht nicht. Aber Kant sagt, dass die Vernunft in einem Kind noch nicht vollständig entwickelt ist, weil es noch mit keinem Empfindungsmaterial arbeiten kann. Einerseits haben wir die äußeren Verhältnisse, über die wir nichts wissen können, ehe wir sie nicht empfunden haben. Wir können sie als Material der Erkenntnis bezeichnen. Andererseits haben wir die inneren Verhältnisse im Menschen selber – zum Beispiel, dass wir alles als Ereignisse in Zeit und Raum und außerdem als Prozesse betrachten, die einem unwandelbaren Kausalgesetz folgen. Das können wir als Form der Erkenntnis bezeichnen.«
Alberto und Sofie blieben einen Moment sitzen und schauten aus dem Fenster. Plötzlich entdeckte Sofie ein kleines Mädchen, das am anderen Seeufer zwischen den Bäumen auftauchte.
»Sieh mal!«, sagte Sofie. »Wer ist das?«
»Das weiß ich wirklich nicht.«
Die Kleine war nur noch für wenige Sekunden zu sehen, dann war sie verschwunden. Sofie hatte gesehen, dass sie eine rote Kopfbedeckung trug.
»Und sowieso wollen wir uns nicht ablenken lassen.«
»Also weiter.«
»Kant wies auch darauf hin, dass es klare Grenzen dafür gibt, was Menschen überhaupt erkennen können. Du kannst vielleicht sagen, dass ihnen die Brillengläser der Vernunft Grenzen setzen.«
»Wieso denn?«
»Du weißt vielleicht noch, was die richtig ›großen‹ philosophischen Fragen der Philosophen vor Kant gewesen waren: ob der Mensch eine unsterbliche Seele hat; ob es einen Gott gibt; ob die Natur aus unteilbaren kleinsten Teilchen besteht; oder ob der Weltraum endlich oder unendlich ist.«
»Ja.«
»Kant meinte, der Mensch könne über diese Fragen niemals sicheres Wissen erlangen. Das heißt nicht, dass er nichts mit diesen Problemen zu tun haben wollte. Ganz im Gegenteil. Wenn er diese Fragen einfach zurückgewiesen hätte, dann könnten wir ihn kaum als Philosophen bezeichnen.«
»Und was hat er also gemacht?«
»Ja, jetzt musst du ein bisschen Geduld haben. Kant meinte, gerade in diesen großen philosophischen Fragen operiere die Vernunft außerhalb der Grenzen dessen, was wir Menschen erkennen können. Andererseits liege in der Natur des Menschen – oder in der menschlichen Vernunft – ein grundlegender Drang, solche Fragen zu stellen. Aber wenn wir zum Beispiel fragen, ob der Weltraum endlich oder unendlich ist, dann stellen wir eine Frage nach einem Ganzen, von dem wir selber ein (winzig kleiner) Teil sind. Und dieses Ganze können wir niemals voll erkennen.«
»Warum nicht?«
»Als du dir die rote Brille aufgesetzt hast, wussten wir, dass es laut Kant zwei Elemente gibt, die zu unserem Wissen über die Welt beitragen.«
»Und zwar Sinneserfahrung und Vernunft.«
»Ja, das Material für unsere Erkenntnis nehmen wir durch die Sinne auf, aber dieses Material richtet sich auch nach den Eigenschaften unserer Vernunft. Zum Beispiel liegt es in dieser Vernunft, nach den Ursachen eines Ereignisses zu fragen.«
»Wie zum Beispiel, warum ein Ball über den Boden rollt.«
»Von mir aus. Aber wenn wir uns fragen, woher die Welt stammt – und also mögliche Antworten diskutieren –, dann läuft die Vernunft gewissermaßen im Leerlauf. Dann kann sie nämlich kein Sinnesmaterial ›bearbeiten‹; sie hat keine Erfahrungen, an denen sie sich reiben kann. Denn wir haben niemals die ganze große Wirklichkeit erfahren, von der wir nur ein winzig kleiner Teil sind.«
»Wir sind gewissermaßen ein kleiner Teil des Balles, der über den Boden rollt. Und deshalb können wir nicht wissen, woher er kommt.«
»Aber es wird immer eine Eigenschaft der Vernunft des Menschen sein, zu fragen , woher so ein Ball kommt. Deshalb fragen und fragen wir und strengen uns bis zum Geht-nicht-mehr an, um Antworten auf die großen
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