Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
solltest dir den Mund auswaschen!«
»Was hast du gesagt?«
»Naja – es ist ja nicht deine Schuld.«
»Mach weiter.«
»Wer im ästhetischen Stadium lebt, ist anfällig für Gefühle der Angst und der Leere. Erlebt er diese Gefühle aber, dann gibt es auch noch Hoffnung. Für Kierkegaard ist die Angst fast etwas Positives. Sie ist ein Zeichen dafür, dass jemand sich in einer ›existenziellen Situation‹ befindet. Der Ästhet kann sich nun selber entscheiden, ob er den Sprung in ein höheres Stadium machen will. Entweder es geschieht, oder es geschieht nicht. Es hilft nichts, beinahe gesprungen zu sein, wenn man nicht wirklich springt. Entweder-Oder . Es kann auch niemand anderer den Sprung für dich machen. Du musst selber entscheiden und selber springen.«
»Das ist vielleicht ähnlich, wie wenn jemand mit dem Trinken oder mit Drogen aufhören will.«
»Ja, vielleicht. Wenn Kierkegaard von dieser Entscheidung spricht, erinnert er ein bisschen an Sokrates, der erklärt hatte, dass jede wirkliche Einsicht von innen kommt. Auch die Wahl, die einen Menschen dazu bringt, von einer ästhetischen zu einer ethischen oder religiösen Lebenssicht zu springen, muss von innen kommen. Genau das schildert Ibsen im ›Peer Gynt‹. Eine andere meisterhafte Schilderung einer existenziellen Wahl, die aus innerer Not und Verzweiflung entspringt, finden wir in einem Roman des russischen Dichters Dostojewski . Er heißt ›Schuld und Sühne‹, und wenn wir mit der Philosophie durch sind, musst du ihn unbedingt lesen.«
»Mal sehn. Und Kierkegaard meint also, wenn es jemand ernst ist, wählt er eine andere Lebenssicht.«
»Und beginnt vielleicht, im ethischen Stadium zu leben. Dieses Stadium ist geprägt von Ernst und konsequenten Entscheidungen nach moralischen Maßstäben. Erinnere dich an Kants Pflichtethik, die auch verlangt, wir sollen versuchen, nach dem Gesetz der Moral zu leben. Wie Kant richtet auch Kierkegaard seine Aufmerksamkeit dabei vor allem auf das menschliche Gemüt. Wesentlich ist nicht unbedingt, was man für richtig und für falsch hält. Wesentlich ist, dass man sich überhaupt entschließt, sich zu dem, was richtig oder falsch ist, zu verhalten. Der Ästhet interessiert sich nur dafür, was lustig oder langweilig ist.«
»Kann man nicht ein wenig zu ernst werden, wenn man so lebt?«
»Doch, bestimmt. Kierkegaard genügt aber auch das ethische Stadium noch nicht. Auch der Pflichtmensch, meint er, hat es irgendwann einmal satt, immer nur pflichtbewusst und ordentlich zu sein. Viele Menschen erleben eine solche Phase des Überdrusses und der Müdigkeit, wenn sie längst erwachsen sind. Und manche fallen jetzt vielleicht ins verspielte Leben im ästhetischen Stadium zurück. Aber andere machen auch einen neuen Sprung ins nächste, das religiöse Stadium . Sie wagen den wirklich großen Sprung in die ›70.000 Faden Wasser‹ des Glaubens. Sie ziehen den Glauben dem ästhetischen Genuss und den Geboten der Vernunft vor. Und obwohl es entsetzlich sein kann, ›in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen‹, wie Kierkegaard sich ausdrückt, kann sich der Mensch erst jetzt mit seinem Leben versöhnen.«
»Durch das Christentum also.«
»Ja, für Kierkegaard bedeutete das religiöse Stadium das Christentum. Und trotzdem beeinflusste er mit seiner Philosophie auch viele nicht christliche Denker. In unserem Jahrhundert entstand eine so genannte Existenzphilosophie , die von Kierkegaard stark inspiriert war.«
Jetzt sah Sofie auf die Uhr.
»Es ist fast sieben. Ich muss machen, dass ich nach Hause komme. Meine Mutter dreht sonst durch.«
Sie winkte ihrem Philosophielehrer zu und rannte zum See und zum Boot hinunter.
Marx
... ein Gespenst geht um in Europa ...
Hilde war vom Bett aufgestanden und trat ans Fenster, das auf die Bucht hinausging. Sie hatte den Samstag damit begonnen, dass sie über Sofies fünfzehnten Geburtstag gelesen hatte. Am Vortag war Hildes eigener Geburtstag gewesen. Wenn ihr Vater sich ausgerechnet hatte, dass sie bis dahin schon zu Sofies Geburtstag kommen würde, hatte er sie überschätzt. Dabei hatte sie gestern wirklich nur gelesen. Andererseits war gerade mal noch ein Glückwunsch dazugekommen: als Alberto und Sofie »Happy birthday!« gesungen hatten. Hilde war das eher peinlich gewesen.
Dann hatte Sofie an dem Tag, an dem Hildes Vater aus dem Libanon zurückkam, zu einem »philosophischen Gartenfest« eingeladen. Hilde war überzeugt davon, dass an diesem Tag etwas
Weitere Kostenlose Bücher