Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
erwähnen, dass Marx die letzten vierunddreißig Jahre seines Lebens in London verbrachte. Er zog 1849 dorthin und starb 1883. Während dieser ganzen Zeit wohnte auch Charles Darwin in der Nähe von London. Er starb 1882 und wurde als einer von Englands großen Söhnen feierlich in der Westminster Abbey beigesetzt. Aber nicht nur in Zeit und Raum kreuzen sich die Spuren von Marx und Darwin. Marx wollte die englische Ausgabe seines großen Werkes ›Das Kapital‹ gern Darwin widmen, aber Darwin lehnte das ab. Als Marx ein Jahr nach Darwin starb, meinte sein Freund Friedrich Engels: ›Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte.‹«
»Ich verstehe.«
»Ein weiterer wichtiger Denker, den man auch mit Darwin in Verbindung bringen kann, ist der Psychologe Sigmund Freud . Auch er verbrachte, mehr als ein halbes Jahrhundert später, seine letzten Lebensjahre in London. Freud wies darauf hin, dass Darwins Entwicklungslehre ebenso wie seine eigene Psychologie den Menschen in seiner ›naiven Eigenliebe‹ gekränkt hätten.«
»Das sind ein bisschen zu viele Namen. Reden wir jetzt von Marx, Darwin oder Freud?«
»Wenn wir es weiter fassen, können wir auch von einer naturalistischen Strömung sprechen, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit in unseres hineinreichte. Unter ›Naturalismus‹ verstehen wir dabei eine Wirklichkeitsauffassung, die außer der Natur und der wahrnehmbaren Welt keine weitere Wirklichkeit akzeptiert. Ein Naturalist sieht deshalb auch den Menschen als einen Teil der Natur an. Vor allem geht ein naturalistischer Forscher nur von naturgegebenen Tatsachen aus – also weder von rationalistischen Spekulationen noch von irgendeiner Form von göttlicher Offenbarung.«
»Und das gilt sowohl für Marx als auch für Darwin und Freud?«
»Genau. Stichwörter der Philosophie und Wissenschaft in der Mitte des letzten Jahrhunderts waren ›Natur‹, ›Umwelt‹, ›Geschichte‹, ›Entwicklung‹ und ›Wachstum‹. Marx hatte darauf hingewiesen, dass das menschliche Bewusstsein ein Produkt der materiellen Basis einer Gesellschaft sei. Darwin bewies, dass der Mensch das Ergebnis einer langen biologischen Entwicklung ist, und Freuds Studium des Unterbewussten legte bloß, dass die Handlungen des Menschen oft gewissen ›animalischen‹ Trieben oder Instinkten zu verdanken sind, die in seiner Natur liegen.«
»Ich glaube, ich verstehe so ungefähr, was du unter Naturalismus verstehst. Aber sollten wir nicht trotzdem lieber einen nach dem anderen durchgehen?«
»Marx hatten wir. Reden wir also über Darwin. Du weißt vielleicht noch, dass die Vorsokratiker natürliche Erklärungen für die Naturprozesse finden wollten. Ebenso, wie sie sich dazu von alten mythologischen Erklärungen befreien mussten, musste sich Darwin von der geltenden kirchlichen Lehre über die Erschaffung von Tier und Mensch befreien.«
»Aber war er denn wirklich ein Philosoph?«
»Darwin war Biologe und Naturforscher. Aber er war der Wissenschaftler, der in neuerer Zeit mehr als jeder andere die biblische Sicht vom Platz des Menschen in der Schöpfung ins Wanken gebracht hat.«
»Dann wirst du jetzt wohl etwas über Darwins Entwicklungslehre erzählen.«
»Wir fangen mit Darwin selber an. Er wurde 1809 im Städtchen Shrewsbury geboren. Sein Vater, Dr. Robert Darwin, war im Ort ein bekannter Arzt und erzog seinen Sohn sehr streng. Als Charles in Shrewsbury die höhere Schule besuchte, bezeichnete der Rektor ihn als Jungen, der sich herumtreibe, Unsinn rede, sinnlos protze und nichts Vernünftiges leiste. Unter ›vernünftig‹ verstand dieser Rektor das Büffeln von griechischen und lateinischen Vokabeln. Und wenn er vom Herumtreiben sprach, dachte er unter anderem daran, dass Charles alle Arten von Käfern sammelte.«
»Diese Worte hat er sicher noch bereut.«
»Auch während seines Theologiestudiums interessierte Darwin sich mehr für Vögel und Insekten als für sein Studium. Deshalb legte er in Theologie auch kein gutes Examen ab. Aber neben seinem Theologiestudium konnte er sich doch einen gewissen Ruf als Naturforscher erarbeiten. Nicht zuletzt interessierte er sich für Geologie, was damals vielleicht die expansivste Wissenschaft war. Nachdem er im April 1831 in Cambridge sein Examen in Theologie abgelegt hatte, fuhr er durch Nordwales, um Bergformationen zu studieren und Fossilien zu suchen. Im August desselben Jahres, mit nur
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