Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Deuten hilft.«
»Ich verstehe.«
»Die Umformung der ›latenten Traumgedanken‹ in den ›manifesten Trauminhalt‹ hat Freud Traumarbeit genannt. Wir können von einer ›Maskierung‹ oder ›Codierung‹ der eigentlichen Traumhandlung sprechen. Bei der Traumdeutung müssen wir einen entgegengesetzten Prozess durchmachen. Wir müssen das ›Motiv‹ des Traums demaskieren oder decodieren, um das eigentliche ›Thema‹ des Traums herauszufinden.«
»Kannst du mir ein Beispiel nennen?«
»In Freuds Büchern wimmelt es von solchen Beispielen. Aber wir können uns ja selber ein einfaches und sehr freudianisches ausdenken. Wenn ein junger Mann träumt, dass seine Kusine ihm zwei Ballons schenkt ...«
»Ja?«
»Nein, jetzt musst du dich selber an der Traumdeutung versuchen.«
»Hmm ... dann ist der ›manifeste Trauminhalt‹ genau das, was du gesagt hast: Seine Kusine schenkt ihm zwei Ballons.«
»Weiter!«
»Und du hast auch gesagt, dass die Requisiten unserer Träume oft dem Vortag entnommen sind. Also war er am Tag davor auf dem Rummel – oder hat in der Zeitung ein Foto von Ballons gesehen.«
»Ja, das kann sein, aber es reicht auch, wenn er nur das Wort ›Ballon‹ gehört oder irgendetwas, was ihn an Ballons hätte erinnern können, gesehen hat.«
»Aber was sind die ›latenten Traumgedanken‹ – also das, worum es in diesem Traum wirklich geht?«
»Du bist hier die Traumdeuterin.«
»Vielleicht wünscht er sich ganz einfach zwei Ballons?«
»Nein, das ist unwahrscheinlich. Aber du hast insoweit Recht, als der Traum ihm einen Wunsch erfüllen soll. Ein erwachsener Mann wünscht sich allerdings kaum brennend zwei Ballons. Und wenn, dann wäre es nicht nötig, den Traum zu deuten.«
»Also ... dann glaube ich: In Wirklichkeit will er die Kusine – und die zwei Ballons sind ihre Brüste.«
»Ja, das ist eine wahrscheinlichere Erklärung, vor allem wenn ihm dieser Wunsch ein bisschen peinlich ist, so dass er ihn sich im wachen Zustand nicht eingestehen mag.«
»Also machen unsere Träume den Umweg über Ballons oder so?«
»Ja. Freud hielt den Traum für eine verkleidete Erfüllung von verkleideten Wünschen. Was wir verkleiden, mag sich, seit Freud Arzt in Wien war, beträchtlich verändert haben. Trotzdem kann der Mechanismus der Verkleidung noch immer intakt sein.«
»Ich verstehe.«
»Freuds Psychoanalyse erlangte in den zwanziger Jahren große Bedeutung – vor allem für die Behandlung von Neurosen. Seine Lehre des Unbewussten war außerdem sehr wichtig für die Kunst und Literatur.«
»Du meinst, dass die Künstler sich mehr mit dem unbewussten Seelenleben der Menschen beschäftigten?«
»Genau. Obwohl davon auch die Literatur der letzten zehn Jahre des vorigen Jahrhunderts schon geprägt war – als man Freuds Psychoanalyse noch nicht kannte. Das bedeutet einfach nur, dass es kein Zufall war, dass Freuds Psychoanalyse gerade in dieser Zeit entstanden ist.«
»Du meinst, es lag in der Zeit?«
»Freud glaubte nicht, Phänomene wie Verdrängung, Fehlleistungen oder Rationalisierung sozusagen erfunden zu haben. Er war nur der Erste, der solche menschlichen Erfahrungen in die Psychiatrie einbezog. Er konnte auch sehr gut literarische Beispiele heranziehen, um seine Theorie zu erklären. Aber wie gesagt – seit den zwanziger Jahren hat Freuds Psychoanalyse die Kunst und Literatur direkt beeinflusst.«
»Und wie?«
»Dichter und Maler versuchten jetzt, die unbewussten Kräfte in ihrer kreativen Arbeit zu verwenden. Das galt vor allem für die so genannten Surrealisten .«
»Was bedeutet das?«
»›Surrealismus‹ ist Französisch und kann mit ›Überwirklichkeit‹ übersetzt werden. 1924 veröffentlichte André Breton sein ›Surrealistisches Manifest‹. Darin erklärte er, dass die Kunst vom Unbewussten hervorgebracht werden solle, denn nur so könne der Künstler in freier Inspiration seine Traumbilder hervorholen und nach einer ›Überwirklichkeit‹ streben, in der die Unterschiede zwischen Traum und Wirklichkeit aufgehoben sind. Tatsächlich kann es auch für einen Künstler wichtig sein, die Zensur des Bewusstseins zu zerstören, damit Worte und Bilder frei strömen können.«
»Ich verstehe.«
»Freud hatte gewissermaßen den Beweis dafür erbracht, dass alle Menschen Künstler sind. Ein Traum ist ja ein kleines Kunstwerk und jede Nacht schaffen wir neue Träume. Um die Träume seiner Patienten zu deuten, hatte Freud sich oft durch einen verdichteten Symbolgebrauch
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