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Sog des Grauens

Titel: Sog des Grauens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bagley Desmond
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dort?«
    »La Cascade de l'Argent – es ist am P'tit Negrito.« Er ging hinüber zu ihr. »Der P'tit Negrito mündet unten im Tal in den Gran Negrito. Man kann die Einmündung von hier aus nicht sehen.«
    Sie holte tief Atem. »Es ist eines der schönsten Bilder, die ich je gesehen habe. Ich hatte mir schon überlegt, ob du es mir noch einmal zeigen würdest.«
    »Ich bin jederzeit wieder dazu bereit«, sagte er. »Ist das der Grund, weshalb du nach San Fernandez gekommen bist?«
    Sie lachte unsicher. »Einer der Gründe.«
    Er nickte. »Es ist ein guter Grund. Ich hoffe, die anderen sind ebenso gut.«
    Ihre Stimme war gedämpft, weil sie den Kopf gesenkt hatte. »Das hoffe ich auch.«
    »Bist du denn nicht sicher?«
    Sie hob das Gesicht und sah ihm direkt in die Augen. »Nein, Dave, ich bin nicht sicher. Ich bin überhaupt nicht sicher.«
    Er legte ihr die Hände auf die Schultern und zog sie an sich. »Schade«, sagte er und küßte sie. Sie schmiegte sich widerstandslos in seine Arme, und ihre Lippen öffneten sich unter seinen. Er spürte, wie sie die Arme um ihn legte und ihn an sich zog, bis sie sich schließlich wieder freimachte.
    »Ich weiß gar nicht«, sagte sie, »ich bin nicht sicher – aber ich bin nicht ganz sicher, ob ich nicht sicher bin.«
    Er fragte: »Möchtest du hier wohnen – auf San Fernandez?«
    Julie sah ihn forschend an. »Soll das ein Heiratsantrag sein?«
    »Ich nehme an, man könnte es so nennen«, sagte Wyatt und rieb sich das Kinn. »Ich könnte nicht im Stützpunkt wohnen bleiben, wenn du das großartige Leben einer Stewardeß aufgeben würdest, also müßten wir ein Haus haben. Würdest du gern irgendwo hier oben wohnen?«
    »Oh, Dave, das würde ich sehr gern«, rief sie aus, und dann waren sie für eine Weile nicht bei Vernunft.
    Nach einiger Zeit sagte Wyatt: »Ich kann nicht verstehen, warum du so unnahbar warst; du hängtest dich gestern abend an Causton wie an einen Blutsbruder.«
    »Mein Gott, Dave Wyatt!« erwiderte Julie, »ich hatte Angst. Ich lief einem Mann nach, und das tut man als Frau doch eigentlich nicht. Im letzten Augenblick bekam ich kalte Füße und fürchtete, ich könnte mich bloßstellen.«
    »Also kamst du doch her, um mich wiederzusehen?«
    Sie fuhr ihm durchs Haar. »Du merkst nicht viel an anderen Menschen, nicht wahr, Dave? Du bist so mit deinen Hurrikans und deinen Formeln beschäftigt. Natürlich kam ich deinetwegen her.« Sie ergriff seine Hand und untersuchte seine Finger, einen nach dem anderen. »Ich bin mit vielen Männern ausgewesen, und manchmal habe ich mir überlegt, ob es diesmal wohl der Mann gewesen war – Frauen denken so, mußt du wissen. Und jedesmal kamst du mir bei meinen Gedanken in die Quere, da wußte ich, daß ich noch einmal herkommen müßte, um Klarheit zu bekommen. Ich müßte dich ganz ins Herz schließen oder dich vollkommen aus meiner Welt verbannen – wenn ich das könnte. Und du schriebst mir weiterhin diese nüchternen Briefe, die mich hätten zum Schreien bringen können.«
    Er grinste. »Ich war noch nie ein guter Liebesbriefschreiber. Aber ich sehe, daß ich regelrecht eingefangen worden bin von einer zielbewußten Frau, also laß uns feiern!« Er ging zum Wagen hinüber. »Ich habe eine Thermosflasche mit deinem Lieblingsgetränk gefüllt – mit Planter's Punch. Ich bin im Interesse der Fahrtüchtigkeit und angesichts der Tageszeit etwas vom Rezept abgewichen – dieser enthält weniger Rum und mehr Limonensaft. Er ist recht erfrischend.«
    Sie saßen über dem Negrito und probierten das Getränk. Julie sagte: »Ich weiß nicht viel über dich, Dave. Du sagtest gestern, du seist auf St. Kitts geboren – wo ist das?«
    Wyatt zeigte mit der Hand. »Eine Insel dort drüben im Südosten. Eigentlich ist es St. Christopher, aber sie wird seit vierhundert Jahren St. Kitts genannt. Christopher, der ›Schwarze Kaiser‹ von Haiti, bezog seinen Namen von St. Kitts – er war ein entlaufener Sklave. Es ist recht schön dort.«
    »Hat deine Familie immer dort gewohnt?«
    »Nun, wir gehören nicht gerade zu den Eingeborenen, aber es gab Wyatts auf St. Kitts schon seit Anfang des siebzehnten Jahrhunderts. Sie waren Pflanzer, Fischer – manchmal auch Piraten, ist mir gesagt worden – ein buntscheckiges Völkchen.« Er nippte an seinem Becher. »Ich bin der letzte Wyatt von St. Kitts.«
    »Wie schade. Wie kommt das?«
    »Ein Hurrikan radierte Mitte des vorigen Jahrhunderts die Insel fast aus. Drei Viertel der

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