Sog des Grauens
schwer betrunken.
Der Offizier schalt sie mit schneidender, wutverzerrter Stimme. Dann machte er eine ruckartige Bewegung und gab ein kurzes Kommando, das bedeutete, daß sie antreten sollten. Der betrunkene Soldat rief etwas, nahm sein Gewehr von der Schulter und lud dabei durch. Der Offizier rief dem Soldaten hinter sich einen kurzen Befehl zu. Der hob seine Maschinenpistole und drückte ab. Die stotternden Hammerschläge der Maschinenpistole erfüllten die Halle, und eine Geschoßgarbe traf den Gewehrträger in die Brust und warf ihn rückwärts über einen Tisch, der krachend zusammenbrach.
Eine vierte Kugel schlug neben Rawsthorne in die Tür. Er zuckte zusammen, ließ aber den Blick nicht von der Halle und sah den Offizier müde mit dem Arm winken. Gehorsam traten die Deserteure an und marschierten aus dem Hotel, eskortiert von den bewaffneten Soldaten. Der Offizier steckte seinen Revolver in die Tasche zurück und blickte auf den getöteten Mann herab. Verächtlich stieß er mit dem Fuß gegen die Leiche, drehte sich dann auf dem Absatz um und ging hinaus.
Rawsthorne wartete volle fünf Minuten, bevor er vorsichtig sagte: »Ich glaube, jetzt können wir gehen.«
Als er die Tür aufstieß und Licht in die Besenkammer flutete, ließ Julie Mrs. Warmington los, die nach der Seite auf Eumenides herabsackte. Rawsthorne torkelte hinaus, und Julie folgte ihm. Dann drehten sie sich um und zerrten die ältere Frau heraus. »Wie geht es ihr?« fragte Julie. »Ich dachte, sie würde mir ersticken, aber ich mußte sie ruhighalten.«
Rawsthorne beugte sich über sie. »Sie kommt schon wieder zu sich.«
Es dauerte zwanzig Minuten, bis sie im Wagen saßen und abfahrbereit waren. Mrs. Warmington war bei Bewußtsein, aber benommen. Sie nahm kaum wahr, was vorging. Eumenides sah bleich und erschüttert aus. Als er sich in dem Sitz zurechtrückte, entdeckte er einen langen Riß in seiner Jacke, eben unter dem linken Ärmel, und erkannte mit verspätetem Schreck, daß er von der verirrten Kugel, die Rawsthorne erschreckt hatte, beinahe ins Herz getroffen worden wäre.
Rawsthorne prüfte die Instrumente. »Der Tank ist voll«, sagte er, »und ich habe zwei Reservekanister hinten drin. Das müßte reichen.«
Er fuhr an, und der Wagen rollte durch die enge Gasse von der Rückseite des Hotels auf die Hauptstraße. Der Union Jack auf dem Kotflügel flatterte ein wenig in dem Fahrtwind.
Es war Viertel vor zwei.
***
Als Causton auf die Straße hinausgetreten war, hatte er sich von allen Seiten beobachtet gefühlt, aber nach einer Weile wurde er sicherer, als er erkannte, daß die Menschen um ihn herum voll und ganz mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt waren. Als er die bevölkerte Straße entlang zur Place de la Libération Noire blickte, sah er eine schwarze Rauchfahne von einem Brand aufsteigen, und gerade als er hinsah, krepierte eine Granate dort, wo etwa die Mitte des Platzes gewesen sein mußte.
Er drehte sich um und eilte in die andere Richtung, mit dem allgemeinen Strom. Es herrschte ein Höllenlärm – der Geschützdonner, das Heulen der durch die Luft fliegenden Granaten und das ohrenzerreißende Krachen, wenn sie krepierten, war schlimm genug, aber das Lärmen der hastenden Menge war noch schlimmer. Jeder schien das Bedürfnis zu haben, laut zu schreien, und die Tatsache, daß sie in einer für ihn unverständlichen Sprache schrien, machte die Sache nicht besser.
Einmal packte ihn ein Mann am Arm und schrie ihm eine Menge Unverständliches ins Gesicht. Causton sagte: »Tut mir leid, mein Sohn, ich verstehe kein Wort«, und schüttelte den Arm ab. Erst als er sich abwandte, wurde ihm klar, daß er auch selbst aus vollem Halse geschrien hatte.
Die Menge bestand hauptsächlich aus Zivilisten, aber es waren viele Soldaten darunter, manche bewaffnet, manche nicht. Die Mehrzahl der Soldaten schien unverwundet und kampftauglich zu sein, abgesehen von ihrer Müdigkeit und der Angst in ihren Augen. Causton vermutete, daß es sich um Männer handelte, die zum erstenmal in ihrem Leben ein Artilleriefeuer erlebt und es seelisch nicht durchgestanden hatten. Aber er sah auch Verwundete, die im Dahintrotten gebrochene Arme festhielten, mit verwundeten Beinen humpelten und, ein schrecklicher Anblick, einen Soldaten, der mit den Händen vor dem Bauch dahinwankte, wobei ihm die rote Flüssigkeit von seinen Eingeweiden zwischen den schmierigen Fingern herausrann.
Die Zivilisten wirkten noch demoralisierter als die Soldaten. Sie
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