Sog des Grauens
wußte er nicht. Auch wußte er nicht, warum er seinen Körper nicht aufrichten konnte. Er versuchte es einige Male, gab dann die Anstrengungen auf und wandte seine Aufmerksamkeit seinem neuen, wunderbaren Ich zu. In einer kurzen Stunde hatte er entdeckt, daß er nie mehr ein öffentliches Image brauchen würde, daß er nie mehr vor Selbstanalysen zurückschrecken würde.
»Ich werde mich nie mehr fürchten«, sprach er leise mit geschwollenen Lippen. »Bei Gott, ich habe es ertragen – Aber er fürchtete sich doch, als das Artilleriefeuer einsetzte. Er konnte die primitive Reaktion seines Körpers nicht steuern; seine Drüsen arbeiteten normal, und die Angst kroch ihn an, als der Stahlhagel auf die Place de la Libération Noire herniederfiel. Er kroch auf dem Bett zusammen, sah hilflos zur Decke hinauf und fürchtete, die nächste Granate könnte einschlagen, um ihm seine neuentdeckte Männlichkeit wieder zu nehmen.
***
Nicht weit davon saß Wyatt in der Ecke seiner Zelle und hielt sich beide Ohren zu, weil der unbeschreibliche Krach unerträglich war. Sein Gesicht war zerschnitten, wo ihn Glassplitter getroffen hatten, aber glücklicherweise waren die Augen unverletzt geblieben. Er hatte eine Zeitlang damit zugebracht, vorsichtig kleine Glassplitter aus seiner Haut zu entfernen – ein sehr schmerzhafter Prozeß –, und die dafür erforderliche Konzentration hatte alles andere aus seinen Gedanken verdrängt. Aber jetzt war ihm klar bewußt, was vor sich ging.
Sämtliche Geschütze, die Favel besaß, schienen auf die Place de la Libération Noire zu schießen. Unaufhörlich folgte Explosion auf Explosion, und ein scharfer Gestank wehte durch das kleine Zellenfenster. Der Poste de Police war noch nicht getroffen worden, wenigstens glaubte Wyatt das. Und er war sicher, er würde das merken. Während er mit angezogenen Beinen und dem Gesicht zwischen den Knien in der Ecke hockte, schmiedete er Pläne für den Fall, daß das Polizeigebäude getroffen würde – wenn er dann noch leben sollte.
Plötzlich gab es einen allmächtigen Krach, der die Luft in der Zelle erzittern ließ. Wyatt fühlte sich wie eine Maus, die in eine große Trommel gekrochen war – er war für eine Weile völlig taub und hörte den Tumult draußen wie durch hundert Tücher. Er rappelte sich auf, schüttelte benommen den Kopf und lehnte sich gegen die Wand. Nach einer Weile fühlte er sich wieder besser und sah sich genauer in dem kleinen Gefängnis um. Das Polizeigebäude war getroffen worden – das war gewiß –, und sicher mußte doch irgend etwas nachgegeben haben.
Er betrachtete die gegenüberliegende Wand. War diese Ausbuchtung vorher schon dagewesen? Gewiß nicht. Er ging näher heran und bemerkte einen langen zickzackförmigen Riß über die Wand. Er streckte die Hand aus und schob vorsichtig, dann drückte er kräftiger mit der Schulter. Nichts bewegte sich.
Er trat zurück und sah sich in der Zelle nach etwas um, womit er die Wand angehen konnte. Sein Blick fiel auf den Hocker, aber das war nichts – er war aus Holz und leicht gebaut, eine brauchbare Waffe gegen einen Mann, aber nicht gegen eine Wand. Da blieb nur noch das Bett. Es war aus Eisen und zerlegbar; der Rahmen war am Kopf- und am Fußende in Ösen eingehakt. Das Betthaupt aus Eisenrohr war verschraubt, aber die Bolzen waren verrostet, und es war nicht leicht, sie zu entfernen. Aber nach einer halben Stunde Arbeit hatte er einen netten Satz Werkzeuge: Zwei primitive Brechstangen, mehrere Kratzer, die er aus Spiralfedern gemacht hatte, und einen unbenennbaren Gegenstand, für den er zweifellos irgendeine Verwendung finden würde.
Er kniete sich vor die Wand und begann mit einem der Kratzer losen Mörtel aus dem Riß herauszukratzen. Der jahrhundertealte Mörtel war hart und widerstandsfähig, aber die Explosion hatte der Wand nicht gutgetan, und nach und nach kratzte er ein kleines Loch aus, das groß genug war, das Ende seiner Brechstange aufzunehmen. Dann drückte er, bis seine Muskeln knackten, und wurde durch eine ganz kleine Bewegung des attackierten Steines belohnt.
Er trat zurück, um das Problem zu untersuchen, und merkte plötzlich, daß die intensive Beschießung des Platzes aufgehört hatte. Die Granate, die die Wand beschädigt hatte, mußte eine der letzten in diese Richtung abgeschossenen gewesen sein, und alles, was er jetzt hörte, war allgemeiner Schlachtenlärm im Norden der Stadt.
Er schob die Gedanken an den Krieg beiseite und
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