Sog des Grauens
keinen Laut hören. Sie müssen gegangen sein.«
»Seien Sie still!« sagte Rawsthorne. Seine Stimme klang ein wenig scharf. Er wartete noch eine lange Zeit und sagte dann leise: »Vielleicht sind sie wirklich weg. Ich will einmal nachsehen.«
»Passen Sie aber auf!« flüsterte Julie.
Er wollte gerade wieder die Tür aufmachen, als er in seiner Bewegung innehielt und fluchte. Einer der Soldaten kam aus der Bar und torkelte aus einer Flasche trinkend durch die Halle. Er ging zur Tür und starrte eine Weile durch die zerbrochenen Scheiben der Drehtür auf die Straße hinaus. Dann rief er plötzlich jemandem draußen etwas zu und schwenkte die Flasche.
Zwei weitere Männer kamen von draußen herein, und es gab eine kleine Konferenz; der erste Soldat zeigte mit einer einladenden, großspurigen Armbewegung nach der Bar, so, als wollte er sagen: Ihr seid meine Gäste. Einer von den zweien rief anderen draußen etwas zu, und im Nu trampelten ein Dutzend Soldaten durch die Halle, in Richtung auf die Bar. Harte Männerstimmen palaverten wild durcheinander.
»Verdammt!« sagte Rawsthorne. »Sie fangen ein Saufgelage an.«
»Was können wir dabei tun?« fragte Julie.
»Nichts«, sagte Rawsthorne schlicht. Nach einer Pause sagte er: »Ich glaube, das sind Deserteure. Ich möchte nicht, daß sie uns sehen, besonders …« Er vollendete den Satz nicht.
»Besonders die Frauen«, sagte Julie ohne Umschweife und merkte, wie Mrs. Warmington zu zittern begann.
Sie lagen still und horchten nach dem Lärm aus der Bar, dem rauhen Rufen, dem Zerbrechen von Glas und dem lauten Gesang. »Gesetz und Ordnung in der Stadt scheinen sich aufzulösen«, sagte Rawsthorne schließlich.
»Ich will hier raus«, sagte Mrs. Warmington plötzlich laut.
»Haltet diese Frau still!« zischte Rawsthorne.
»Ich bleibe nicht hier«, sagte sie weinerlich und versuchte aufzustehen.
»Hierbleiben!« flüsterte Julie wütend und zog sie zurück.
»Sie können mich nicht festhalten«, kreischte Mrs. Warmington.
Julie wußte nicht, was Eumenides getan hatte, aber plötzlich sackte Mrs. Warmington über ihr zusammen, eine warme, leblose Last, schlaff und schwer. Sie bäumte sich kraftvoll auf und wälzte die Frau von sich ab. »Danke, Eumenides«, flüsterte sie.
»Um Gottes willen!« hauchte Rawsthorne und spitzte die Ohren, um zu hören, ob sich die Geräusche aus der Bar plötzlich und bedrohlich verändern würden. Nichts geschah; der Lärm schwoll noch an – die Männer wurden betrunken. Nach einer Weile fragte Rawsthorne leise: »Was ist mit dieser Frau los? Ist sie verrückt?«
»Nein«, sagte Julie. »Nur maßlos verwöhnt. Sie hat ihr Leben lang immer ihren Willen bekommen, und sie kann sich eine Situation, in der man ihr ihren Willen nicht lassen darf, weil es tödlich für sie sein könnte, einfach nicht vorstellen. Sie kann sich nicht anpassen.« Ihre Stimme klang nachdenklich. »Im Grunde tut sie mir nur leid.«
»Ob sie uns leid tut oder nicht, wir müssen sie stillhalten«, sagte Rawsthorne. Er spähte durch den Spalt. »Gott mag wissen, wie lange diese Burschen hierbleiben – sie werden immer betrunkener.«
Sie lagen dort und horchten nach dem Getöse, das manchmal vom Schlachtenlärm übertönt wurde. Julie sah immer wieder auf ihre Uhr und überlegte, wie lange das wohl noch dauern sollte. Alle fünf Minuten sagte sie sich, sie werden in fünf Minuten gehen – aber sie taten es nicht. Da hörte sie einen erstickten Laut von Rawsthorne. »Was ist?« flüsterte sie.
Er wandte sich um. »Es kommen noch mehr herein.« Er wandte sich wieder dem Spalt zu, um zu beobachten. Es waren diesmal sieben, sechs Soldaten und einer, der wie ein Offizier aussah, und sie wirkten diszipliniert, wie sie in die Halle kamen und sich umsahen. Der Offizier starrte zur Bar hinüber und rief etwas, aber seine Stimme ging in dem Lärm unter, daher zog er seinen Revolver und feuerte einen Schuß in die Luft. Es entstand eine plötzliche Stille im Hotel.
Mrs. Warmington rührte sich, und ein Stöhnen kam über ihre Lippen. Julie drückte der Frau schnell die Hand auf den Mund. Sie hörte einen verzweifelten Seufzer von Rawsthorne und sah eine Kopfbewegung, als hätte er sich schnell umgesehen.
Der Offizier rief in barschem Ton etwas, und die Deserteure kamen einer nach dem anderen in die Halle und standen dort, untereinander murmelnd und den Offizier anmaßend und trotzig anblickend. Als letzter tauchte der Soldat mit dem Gewehr auf – er war
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