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Sog des Grauens

Titel: Sog des Grauens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bagley Desmond
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notwendig. In Wirklichkeit könnte dieser Versuch ihn sogar verdammt leicht ruinieren. Ich überlasse es Ihnen zu beurteilen, wo Ihre Pflicht liegt.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging davon.
    Wyatt sah ihm niedergeschmettert nach. Causton hatte natürlich recht; leider nur zu recht. Er war in dieser Sache mit drin, ob es ihm paßte oder nicht – durch die Rettung der Bevölkerung von St. Pierre würde er mithelfen, die Armee der Regierung zu vernichten. Vielleicht war es besser, es andersherum zu sehen – durch seine Mithilfe bei der Vernichtung der Armee würde er die Bevölkerung retten. Er dachte daran, aber er fühlte sich nicht viel wohler dabei.
    ***
    Um elf Uhr kochte St. Pierre über. Mannings Plan war brutal einfach. Seine Evakuierungskommandos begannen gleichzeitig im Osten und Westen, gleich hinter den kampfbereiten Verteidigungskräften, und warfen die Einwohner auf die Straßen, systematisch von Haus zu Haus gehend. Die Leute durften mitnehmen, was sie am Leibe hatten, und soviel Lebensmittel, wie sie tragen konnten – sonst nichts. Das Ergebnis war, als hätte jemand mit einem Stock in ein Ameisennest gestochen und ihn dann einmal umgedreht.
    Manning gab seinen Offizieren Stadtpläne, in die rote und blaue Linien eingezeichnet waren. Die roten Linien bezeichneten die Verbindungswege für die Armee; Zivilisten war es bei Todesstrafe verboten, diese Straßen zu betreten – die Armee mußte um jeden Preis geschützt und versorgt werden, und es durfte ihr niemand im Weg stehen. Die blauen Linien führten zu der Hauptstraße, die durch das Negrito-Tal hinaufführte, der Straße, auf der Wyatt mit Julie gefahren war, vor hundert Jahren, wie ihm jetzt scheinen mochte.
    Es gab Zwischenfälle. Die blauen Linien galten für Einbahnverkehr, und diese Verkehrsregelung wurde mit Gewalt durchgesetzt. Wer sich gegen den Strom bewegen wollte, wurde brüsk zur Umkehr aufgefordert, und wenn das nicht genügte, half eine Bajonettspitze überzeugend nach. Aber manchmal war für einen verzweifelten Vater, der seine Familie suchte, sogar eine Bajonettspitze nicht wirksam genug, und das Gewehr hinter dem Bajonett mußte ein lauteres Wort sprechen. Die Leiche wurde an den Wegrand geschleppt, damit sie den ununterbrochenen Strom von hastenden Füßen nicht behinderte.
    Es war brutal. Es war notwendig. Es wurde durchgeführt.
    Causton trug die Armbinde eines Rebellenoffiziers und durchstreifte die Stadt. An all den Brennpunkten dieser geplagten Welt, von denen er in seinem Berufsleben berichtet hatte, war ihm so etwas noch nicht begegnet. Er war gleichzeitig entsetzt und begeistert – entsetzt über das ungeheure Ausmaß der Tragödie, die er miterlebte, und begeistert, weil er der einzige Reporter am Ort war. Da die Batterien seines Tonbandgerätes leer waren, machte er sich Notizen in Stenografie, die er als junger Reporter gelernt hatte, in Heften aus einem geplünderten Papierwarengeschäft, und beschrieb den Schauplatz für die nachrichtenhungrige Welt.
    Die Menschen waren apathisch. Seit Jahren hatte Serrurier systematisch die Führerpersönlichkeiten herausgezogen, und was blieb, waren die Schafe. Sie weigerten sich mit Worten, wenn sie aufgefordert wurden, ihre Häuser zu verlassen, aber der Anblick der Gewehre brachte sie zum Schweigen, und sobald sie auf der Straße waren, reihten sie sich gehorsam in die lange Kolonne ein und hasteten mit voran, mit Favels Leuten auf den Fersen, die sie zu größerer Eile anfeuerten. Es gab unvermeidliche Verwirrungen und Engpässe, als die große Masse der Bevölkerung auf der Straße war; an einer Ecke, wo zwei breite Straßen in eine dritte einmündeten, herrschte ein Chaos – ein wirres, unentwirrbares Knäuel von Leibern, das Favels schimpfende Unteroffiziere erst nach zwei Stunden aufgelöst hatten. Und als diese Verstopfung beseitigt war, lagen zwei Dutzend Totgetrampelte und Erstickte auf der Straße, als stumme Zeugen der Anarchie.
    Causton fuhr in seinem geliehenen Wagen durch die Stadt und wandte sich dann zum Negrito. Er suchte sich auf seiner Karte die schnellste Verbindung auf einer rot markierten Strecke. Auf einer Nebenstraße gelangte er zu der Hauptstraße ins Negrito-Tal, nicht weit von der Stelle, wo Serruriers Artillerie erbeutet wurde, und er sah die lange Flüchtlingskolonne in einiger Entfernung dahinziehen. Hier war eine größere Gruppe von aufständischen Soldaten, etwa zweihundert Mann stark. Sie suchten arbeitsfähige Männer aus dem

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