Sokops Rache
Arbeitstitel.« Sie zuckt wie entschuldigend mit den Schultern. »Henry hat mir leider seine neue Adresse nicht gegeben.« Weller unterbricht sie.
»Ihnen ist aber schon klar, dass ich keinerlei Informationen über meine Klienten an Dritte – und schon gar nicht an die Presse – weitergeben darf. Ich darf Ihnen nicht einmal sagen, ob der von Ihnen Angesprochene bei uns in Betreuung ist.« Er beugt sich über den kleinen Besprechungstisch, auf dessen Platte sich Merkblätter und Informationsbroschüren stapeln, und sieht ihr aufmerksam ins Gesicht. »Was wollen Sie also?«
Sonja beißt sich kurz auf die Unterlippe, setzt dann ein strahlendes Lächeln auf.
»Aber sicher, Herr Weller. Vielleicht können Sie mir jedoch ein paar generelle Informationen über Ihre Tätigkeit geben. Bisher habe ich Interviews mit verschiedenen Gefangenen und das, was ich von den Justizangestellten erfahren habe, als Hintergrundinformationen für meine Reportage. Sie können doch bestimmt noch etwas aus der Sicht der Bewährungshilfe beitragen.«
Weller nimmt sich tatsächlich Zeit und schildert ihr seinen Arbeitsalltag. Sie überlegt währenddessen, wie sie das Gespräch wieder auf Henry lenken und Weller dessen Aufenthaltsort entlocken kann. Nervös versucht sie sich mit einem Ohr auf Wellers Schilderungen zu konzentrieren. Das hier darf sie nicht vermasseln, sagt sie sich und spürt zugleich, dass ihr Gegenüber mit allen Wassern gewaschen ist. Dem macht niemand so leicht etwas vor. Er berichtet ihr bereitwillig, wie die Betreuung eines aus der Haft Entlassenen vor sich geht, welche Auflagen und Pflichten derjenige erfüllen muss, welche Unterstützung er von der Bewährungshilfe erhalten kann und wie er – Weller – hierbei vorgeht.
»Und Herr Sokop? Wie würde zum Beispiel sein erster Tag als freier Mann aussehen?« Sonja ist stolz auf ihre Hartnäckigkeit. Weller grinst; sein Seehundsbart wackelt.
»Also, unser fiktiver Gefangener würde, falls er noch keine Wohnung hat, beziehungsweise Angehörige, die ihn bei sich aufnehmen, zunächst draußen im Industriegebiet am Hafen, in der städtischen Wohnunterkunft Haffeld landen.« Weller schnaubt. »Bei den Asylanten und Obdachlosen. Da darf er dann sein müdes Haupt von 18 bis 7 Uhr morgens auf das Kissen betten. In der anderen Zeit ist das Haus tabu. Immerhin darf man seine Sachen tagsüber dort lassen.«
»Das ist ja grauenhaft. Da kommt man doch sofort wieder auf die schiefe Bahn.« Weller lässt das unkommentiert.
»Wenn man einigermaßen pfiffig ist, verprasst man sein sogenanntes Überbrückungsgeld nicht gleich am ersten Tag und kümmert sich schleunigst um eigene vier Wände. Von mir erhält der Entlassene einen Meldezettel von der WOBAU für eine Einraumwohnung. Und wenn nicht gerade das Hochschulsemester angefangen hat, findet man hier in Wismar recht schnell etwas.«
Sonja tut interessiert, taxiert ihre Chancen, sofort hinauskomplimentiert zu werden, wenn sie noch einmal direkt nach Henry fragt. Dieser Bewährungshelfer fackelt nicht lange, das ist ihr klar. Gerade erklärt er ihr, wie er mit Klienten umgeht, die nicht zu den vereinbarten Gesprächen erscheinen. Das bringt sie auf die Idee, Weller nach seinen Sprechzeiten zu fragen. Zur Not wird sie eben hier draußen vor dem Haus darauf warten, dass Henry auftaucht. Als kategorisierter Gewalttäter wird er alle 14 Tage hier erscheinen müssen.
Weller verabschiedet sie an seiner Bürotür, sieht forschend zu ihr, der fast zwei Köpfe Kleineren, herunter.
»Wissen Sie was? Der taucht schon wieder auf, Ihr Sokop.« Er macht eine Pause. »Jedenfalls, wenn er weiterhin Interesse an Ihrer Reportage hat. Oder an Ihnen.« Wieder dieses amüsierte Zucken seines Schnäuzers. »Aber in der ersten Zeit nach der Entlassung – gerade bei einer langjährigen Haftstrafe – hat man andere Sorgen, glauben Sie mir.« Er überlegt einen Moment. »Das Einzige, das ich Ihnen anbieten kann, ist: Sie können hier bei mir einen Brief an ihn hinterlegen. Wenn er durch eine mit vertretbarem Aufwand zu recherchierende Dienststelle betreut werden sollte, könnten wir ihm den aushändigen lassen.«
Als Sonja wenig später die Treppen hinuntersteigt, strahlt sie, als hätte sie gerade den Lottojackpot gewonnen.
* * *
Er könnte vor Wut die Faust in diese Glasvitrine rammen, in der verschiedene Handymodelle im Licht kleiner Strahler glänzen. Oder besser noch in die Visage des jungen Verkäufers, der seinen Mund mühsam in ein serviles
Weitere Kostenlose Bücher