Sokops Rache
einzustreichen. Alles ging in bar, in harter D-Mark. Den Rest der Zeit verbrachte er mit der Wismarer Damenwelt. Die Frauen himmelten ihn, den Wessi mit den Cowboystiefeln und dem Sportwagen, an, als wäre er ein Popstar. Kein Abend verging, an dem er nicht mit zwei Mädels am Arm durch die Stadt gondelte, sich für billiges Geld in einem Restaurant vollfraß und sich danach in einer Diskothek amüsierte. Er lächelt vor sich hin bei diesen Erinnerungen und wird gleichzeitig traurig. Es war eine Wahnsinnszeit damals, die glücklichste seines Lebens. Sie endete abrupt, als er am Silvesterabend 1992 seinen tödlich verletzten Vater in dessen Berliner Bürocontainer fand. Was Sekunden später passiert war, hatte ihm niemand geglaubt. Ein Unbekannter schlug ihn hinterrücks nieder; er verlor das Bewusstsein. Auf der Tatwaffe – der Pistole aus dem Schreibtisch seines Vaters – fanden sich später nur Henrys Fingerabdrücke und an seiner Hand hafteten Schmauchspuren. Seinen Beteuerungen, dass der Täter die Pistole abgewischt, sie ihm, während er bewusstlos dalag, in die Hand gedrückt und noch einmal abgefeuert haben musste, war man nie nachgegangen. Den zweiten Schuss, der die Wand des Containers getroffen hatte, hielt man für einen Fehlschuss – aus Versehen gefallen, in der Hektik eines Streits von Vater und Sohn.
Aus Sicht der Ermittler passte doch alles so gut zusammen. Henry sieht noch heute das siegesgewisse Playboygesicht des Staatsanwalts vor sich, als dieser ihm eine besonders üble Form von Habgier, gepaart mit einer schwer gestörten Vater-Sohn-Beziehung als Tatmotiv unterstellte. Niemand glaubte ihm, dem redegewandten Twen, dessen Lebensperspektive doch sicher nicht darin bestand, als – offiziell – schlecht bezahlter Autoverkäufer für den recht vermögenden Vater zu jobben. In der Verhandlungspause hatte sein Anwalt ihn noch einmal davon zu überzeugen versucht, zu gestehen, um eine Verurteilung wegen Totschlags im Affekt zu erzielen. Henry hatte die Zähne zusammengebissen und geschwiegen.
Verdächtig machte Henry neben dem Umstand, dass er Alleinerbe des Ermordeten war, sein Verhalten nach der Tat. Nachdem er wieder zu Bewusstsein gekommen war, war er durch die Silvesternacht geirrt, hatte sich schwer betrunken und war am nächsten Vormittag, halb erfroren, vor dem Haus seines Vaters festgenommen worden.
Henry strafft die Schultern und kehrt dem Parkplatz den Rücken zu. Vermutlich wird er niemals seine Unschuld beweisen können. Er wird nie wieder etwas anderes sein als der Vatermörder, als der er verurteilt worden ist. Rehabilitation ist nicht denkbar, Chance für einen Neubeginn de facto nicht vorhanden. Er ist ein junger alter Mann, mit einem nutzlosen Fernstudienabschluss in Betriebswirtschaft. Niemand wird einen Haftentlassenen, einen Gewalttäter noch dazu, für eine einigermaßen verantwortungsvolle Tätigkeit einsetzen. Nein, er ist jetzt, nach der Entlassung, noch einmal verurteilt. Verurteilt zu vermutlich lebenslangem Bezug staatlicher Almosen. Nur eins hält ihn aufrecht: die Möglichkeit, seinen Vater und damit auch sich selbst zu rächen. Nur eins ist noch wichtig: die Rache am wahren Mörder. Was danach passiert, ist ihm gleichgültig. Denn in Wahrheit ist er seit Langem, seit fünfzehn Jahren, tot.
»Rainer Strom?« Henry presst mit angehaltenem Atem das Handy an seine Ohrmuschel, das endlich – nach einem demütigenden erneuten Besuch bei dem Telefonladenjüngling, einem Anruf bei einer Maschine und dem Eintippen eines Zahlencodes – funktioniert. Auf der anderen Seite krächzt eine Männerstimme ein fragendes Ja.
»Henry Sokop.« Er lässt die beiden Worte in der Luft stehen, horcht ihrem Klang nach. Strom braucht eine Weile, um sich zu sammeln. Nach einigen »Wahnsinn, Alter« und »Das glaub ich nicht« verabreden sie sich für den Abend im Schlauch , einer Musikkneipe, die Henry noch von damals kennt.
Bis dahin hat er vier Stunden Zeit. Er läuft durch seinen alten und neuen Wohnsitz, der am letzten Wochenende das erste seiner jährlich wiederkehrenden Großevents hinter sich gebracht hat: den Start der Heringstage , die spezielle Heringsgerichte auf die Speisekarten der ansässigen Gastronomie spülten, eingeläutet von einem imposanten Umzug der Köche samt Blasorchester vom Hafen zum Markt, wo die frisch gebratenen Fische den Schaulustigen in die Hand verkauft wurden. Dort, im Menschengewühl zwischen den Ständen, hat er am Samstag die Journalistin wieder
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