Sokops Rache
der Anpassung. Überlebenswichtige Anpassung.«
Sonja wird, wie immer, wenn sie diese Stelle hört, kalt. Sie biegt nach links in die Schweriner ein und von dort auf die Dahlmannstraße, passiert den Backsteinbau des Gerhart-Hauptmann-Gymnasiums – ihre ehemaligen Schule. Wie überschaubar und gleichzeitig aufregend vielfältig war ihr als Schülerin die Welt erschienen. Nun, mit 32 Jahren, fühlt sie sich in manchen Momenten wie eine verwirrte Alte.
»Ich bin in einem reinen Frauenhaushalt aufgewachsen. Vielleicht wirke ich deshalb ab und an auf den ersten Blick weich, weiblich. Doch das täuscht.« Er lacht unfroh auf und Sonja erinnert sich, dass sie in diesem Moment gefühlt hat, wie ihr die Röte die Wangen hinaufstieg, so als hätte er sie bei ihren Schwärmereien für ihn ertappt.
Dabei hatte sie vor ihrem ersten Zusammentreffen sogar noch überlegt, ob sie ihm zur Begrüßung die Hand geben oder lieber jeden Körperkontakt mit diesem Mörder vermeiden sollte. Ganz so, als wäre er ein wildes Tier. Sie lacht in sich hinein. Er ist ihr unheimlich gewesen damals, am Anfang. Schon Wochen vor ihrem ersten Besuch hatte sie sich mit seinem Fall beschäftigt und sich vorzustellen versucht, was einen Mann dazu treiben kann, den eigenen Vater umzubringen. Sie wusste, dass er die Tat leugnete, doch taten dies nicht fast alle Häftlinge?
Ihre Beklommenheit ist während der ersten Interviews, die sich zu angeregten Gesprächen entwickelten, dahingeschmolzen. Er war so kultiviert, in keiner Weise Angst einflößend. Niemals hätte sie einen so ernsthaften und sanften Mann im Gefängnis erwartet. Hinter seiner beherrschten Fassade nahm sie Sinnlichkeit, Leidenschaft, eine gewisse tragische Größe wahr, die ihr den Atem nahm. Schon bald war sie sich ihrer Verantwortung ihm gegenüber bewusst geworden. Schien er doch ihre Gespräche, das Nacherzählen seines Lebens, so nötig zu haben. Er zeigte es nicht, doch Sonja spürte schnell, wie sehr er sich über ihre Besuche freute; die Möglichkeit, seine Geschichte mit einer Außenstehenden, einer neutralen Person, zu teilen.
Nur ist sie eben das nicht lange geblieben – neutral. Das, was sie zunächst für Mitgefühl und Sympathie gehalten hat, ist schon damals Liebe gewesen. So einfache wie große Liebe. Nie hat sie auch nur einen Hauch von Zweifel oder sogar Furcht vor den Konsequenzen dieser Liebe empfunden. Dieser Mann, Henry Sokop, ist der Mann ihres Lebens! Die Frage, ob er einen Mord begangen hat oder nicht, hat seither überhaupt keinen Raum in ihren Gedanken mehr eingenommen. Wer ist schon ohne Schuld? Was zählt, ist der Henry von heute. Selbst wenn er die Tat begangen haben sollte, nun hat er seine Strafe verbüßt. Er wird neu anfangen, mit ihr. Wie hat er es so schön bildlich ausgedrückt: Sein drittes Leben beginnt nach der Haft. Und sie ist bereit, es mit ihm zu teilen. Seit sie dies erkannt hat, hat er sie überallhin begleitet. Ob sie am Computer sitzt, im Auto zu einem Termin unterwegs ist oder mit einem Glas Wein in der Badewanne liegt – was immer sie tut, seine digital konservierte Stimme ist bei ihr, stellt den Ankerpunkt ihrer Sehnsüchte dar. So oft sie es will, ist er bei ihr, umhüllt sie mit seiner Gegenwart, vertreibt auf Knopfdruck die erstickende Realität ihres Lebens, die Abgründe ihrer bedeutungslosen, einsamen Existenz. Sie badet in diesen akustischen Reminiszenzen, den reinszenierten Momenten ihrer erst aufkeimenden, dann erstarkenden Liebe.
Sie erreicht den Kreisverkehr vor der Ulmenstraße und schaltet den Player ab. Zehn Minuten später sitzt sie Uwe Weller gegenüber; einer imposanten Erscheinung, wie sie aus alter Journalistengewohnheit im Geist notiert. Er ist bestimmt mindestens einsachtzig, um die fünfzig, trägt die braunen Haare unmodisch lang und – noch unmodischer – mit einem Gummi zurückgebunden. Dazu der bis über die Mundwinkel hängende Schnauzbart, die sichtbare Bierwampe, die ausgebeulten Jeans – all das lässt ihn mehr wie einen Besucher eines Blueskonzerts erscheinen, als dass es ihrem Bild eines amtlich bestellten Bewährungshelfers entspräche.
»Es geht um Herrn Sokop.« Ihre Stimme droht zu versagen. Der Bewährungshelfer blickt sie interessiert an. »Ich habe ihn während der Haft, also während der letzten Monate seiner Haftzeit besucht und ihn für eine Reportage interviewt. Ich arbeite als freie Autorin für das JOURNAL, recherchiere zum Thema Leben nach dem Lebenslang. So lautet der
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