Sokops Rache
gesehen. Ihr karottenfarbenes Haar leuchtete in der Menge, sie schien Passanten zu interviewen, fotografierte und bemerkte ihn zum Glück nicht. Nun ist er auf der Hut, wenn er durch die Straßen geht, blickt stets weit voraus, bereit, jederzeit in einem Hauseingang oder Torweg zu verschwinden. Sie hat in Waldeck ihren Spaß mit ihm gehabt. Er braucht sie nicht mehr.
In einem Laden, der sein Sortiment in hunderten bunten Plastikkörben präsentiert, ersteht er für eine absurd geringe Summe einen Topf, eine Pfanne, Besteck, zwei Teller, ein Schneidebrett, zwei Becher und eine Kaffeemaschine. Das hat etwas völlig Surreales für ihn; er fühlt sich wie auf einem fremden Planeten. Ein Planet, dessen Sprache er zwar spricht, dessen Lebensregeln er sich jedoch nur durch Imitation aneignen kann. Alles kommt ihm vor wie ein großer Schwindel: die Läden, die Preise der Waren, die Menschen, die Geschäftigkeit auf den Straßen, seine Wohnung. Es fällt ihm schwer, zu entscheiden, ob er der Schwindler ist oder die anderen.
Zurück im Spiegelberg räumt er seine Einkäufe in die leeren Küchenschränke, versucht dabei, sich eine Strategie für das Treffen mit Strom zurechtzulegen. Seit seiner Inhaftierung haben sie keinen Kontakt mehr gehabt. Rainer war damals bestimmt heilfroh gewesen, keine Rolle in den polizeilichen Ermittlungen und im Prozess zu spielen. Seine Weste ist alles andere als weiß. Kennen gelernt haben sie sich in der Autowerkstatt, in der Rainer sämtliche Arbeiten erledigte, die auch Henry in der Anfangszeit bei seinem Vater in Berlin übernommen hatte: Ölwechsel, Reifen aufziehen, Motorwäsche. Daneben verschob Strom Schmuggelware und bei öffentlichen Bauvorhaben Abgefallenes . Für die Luxuslimousinen der Sokops hat Strom den einen oder anderen Kaufinteressenten vermittelt. Die Geschäftsidee seines Vaters war einfach, aber genial: Verkauf die Luxusschlitten in die ostdeutsche Provinz und klaue sie später wieder zurück. Damals, in diesen unruhigen Aufbruchszeiten, war so etwas tatsächlich möglich, war Ostdeutschland der sprichwörtliche Wilde Osten – aus heutiger Sicht auch fast so etwas wie ein fremder Planet.
Henry nimmt sich vor, vorsichtig zu sein, wenn er nach dem Käufer des goldfarbenen Mercedes 500 fragt, jenem Mann, den er für den Mörder seines Vaters hält.
Es kann nicht anders sein. Von seiner Zelle aus hat er lange darum gekämpft, die Sokopschen Geschäftsunterlagen einsehen zu dürfen. Als überführter Täter war er zwar nicht erbberechtigt – Straftäter dürfen sich nicht durch ihre Tat bereichern – und sein Erbe ist an den Staat gefallen, aber sein Anwalt hat es trotzdem geschafft, ihn über die Abwicklung des väterlichen Betriebes auf dem Laufenden zu halten. In der Aufstellung der Vermögenswerte war jene sehr auffällige Mercedeslimousine nicht gelistet gewesen, die Henry zuletzt rücküberführt hatte, wie die Ganoven das in ihrem Jargon genannt hatten. Dabei hatte er sie am Vorabend der Tat noch auf dem Sokopschen Firmengelände gesehen.
Er hatte übergenug Zeit, alle anderen Möglichkeiten zu durchdenken. An den Überfall eines beliebigen Fremden, der auf die Kasse von Sokops Carworld aus war, hat er nie geglaubt. Der Tresor im väterlichen Büro war unangetastet und in seiner Brieftasche steckten mehrere große Scheine. Auch die protzige Breitling an seinem Handgelenk hätte kein Räuber verschmäht. Außerdem hätte jemand, der einen solchen Überfall plante, doch wohl eine eigene Waffe benutzt, nicht die des Opfers. Ein Konkurrent also? Eine Fehde, von der Henry nichts wusste, die in einem Handgemenge endete, bei dem Vaters Pistole gegen ihn selbst gerichtet worden war?
Hier bleibt ein winziger Zweifel. Es hat – neben alltäglichen Gesprächen über das Geschäft – nur wenige Augenblicke gegeben, in der sein Vater mehr von sich zeigte als den kühlen, beherrschten alten Mann, der sich von niemandem in die Karten sehen ließ. Nur ein einziges Mal war er ein wenig rührselig geworden. Sie hatten in einem guten Restaurant Henrys Übernahme der Autogeschäfte in Wismar gefeiert. Beim Dessert, nach mehreren Flaschen Wein, hatte Sokop senior ihm eröffnet: »Du weißt, ich bin kein Mann großer Worte. Aber du bist mein einziger Sohn, ja der einzige noch lebende Verwandte überhaupt.« Er hatte von seinem Weinglas aufgeblickt, als erwarte er Widerspruch. »Nein, deine Mutter habe ich nicht vergessen. Wie könnte ich meine Diane vergessen. Aber
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