Solang die Welt noch schläft (German Edition)
gekrümmten Messern in verschiedene Größen geschnitten. Unterschiedlich große und unterschiedlich geformte Holzklötze dienten dabei als Vorlagen. Eigentlich hätte man auch diesen Arbeitsschritt mit Stanzmaschinen erledigen können, dachte Jo, aber so fortschrittlich war Strähles Schuhsohlenfabrik allem Anschein nach nicht.
Josefine schätzte, dass mindestens hundert Frauen hier arbeiteten, allein an ihrer Werkbank waren außer ihr noch zehn andere Frauen mit dem Löcherstanzen beschäftigt. Zu gern hätte sie sich ein wenig mit den anderen Arbeiterinnen unterhalten. Die Frage, die ihr am meisten unter den Nägeln brannte, war die nach ihrem Lohn. Denn darüber hatte die Kontoristin keinen Ton verlauten lassen.
»Was guckst du Löcher in die Luft! Konzentrier dich auf deine Arbeit!«, ertönte es scharf hinter ihr. »Siehst du denn nicht, dass die Abstände zwischen deinen Stanzlöchern völlig unregelmäßig werden?« Wie aus dem Nichts war die Vorarbeiterin erschienen.
Jo murmelte eine Entschuldigung und senkte ihre Lider.
Kaum hatte sich die Vorarbeiterin ein Stück entfernt, raunte ihre Nachbarin, eine junge Frau in ihrem Alter, ihr leise zu: »Wenn dir das noch einmal passiert, ziehen sie dir den Schaden von deinem Lohn ab, und der ist mickrig genug. Also pass auf!«
»Wie viel Geld bekommen wir eigentlich für die Arbeit hier?« Jo hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als die Vorarbeiterin erneut an ihrer Seite auftauchte.
»Sprechen ist strikt verboten! Es lenkt von der Arbeit ab. Du bist neu hier, deshalb will ich heute noch einmal darüber hinwegsehen. Aber ab morgen ziehe ich dir jedes Mal, wenn ich dich beim Reden erwische, fünf Pfennig vom Lohn ab. Hast du mich verstanden?« Mit hochgerecktem Kinn wartete die Frau Jos Nicken ab, dann warf sie einen strengen Blick in die Runde und stakste davon.
Unwirsch schaute Josefine ihr hinterher, bevor sie eine neue Sohle unter die Stanze legte. Eins stand fest: Hier würde sie keinen Tag länger als nötig bleiben! Gleich morgen früh würde sie nach einer neuen Stelle Ausschau halten.
19. Kapitel
Statt nach der Spätschicht auszuschlafen, stand Jo frühmorgens auf, geweckt vom Geschnatter ihrer Mitbewohnerinnen, die sich für die Frühschicht fertigmachten. Nach einem kargen Morgenmahl, bestehend aus einer trockenen Schrippe und einem Becher Tee – außer Graubrot wurde tatsächlich alles aus den Küchenfächern geklaut – ging sie in den Waschraum. Das Wasser, das sie mit einer Kolbenpumpe in einen zerbeulten Zinkeimer beförderte, war noch kälter als das im Frauengefängnis. Jos Rücken und ihre Handgelenke, durch das harte Bett und die langen Stunden an der Stanzmaschine stark beansprucht, schmerzten beim Kontakt mit dem eisigen Wasser. Doch Sauberkeit war Jo wichtig, nicht einmal im Kerker hatte sie sich vom täglichen Waschen abhalten lassen. Schon am dritten Tag fehlte das Stück Seife, das sie sich für zehn Pfennige gekauft hatte. Natürlich stritt jede ab, es gestohlen zu haben. Geld, um sich neue Seife zu kaufen, hatte sie nicht, da der erste Lohn erst am übernächsten Samstag ausgezahlt werden sollte. Auch der Kauf eines neuen Kleides musste warten, dafür nähte sie gleich am zweiten Tag das einzige Kleid, das sie besaß, so ab, dass es ihr wenigstens wieder passte. Claras Worte im Hinterkopf, bat sie außerdem eine der Frauen in der Gemeinschaftsküche um etwas Essig, mit dem sie ihre Haare nach dem Waschen ausgiebig spülte. Diese Aktion brachte zumindest ein wenig Glanz zurück. Eine der Frauen erbot sich, ihr die ausgefransten Spitzen abzuschneiden. Danach gefiel sich Jo etwas besser.
Sauber gekleidet und frisiert, brach Josefine allmorgendlich auf, um sich eine andere, bessere Arbeit zu suchen. Spätestens gegen halb zwölf musste sie wieder in der Schuhsohlenfabrik sein, wenn sie vor der Arbeit, die um zwölf Uhr begann, noch einen Bissen essen wollte. Aber weit musste sie zum Glück nicht laufen, denn hier im Feuerland reihte sich eine Fabrik an die andere. Seit ihrer letzten Velofahrt durch das Industriegebiet waren in jeder Baulücke Fabriken aus dem Boden geschossen, manchmal erkannte Josefine die alten Straßen kaum wieder. Die Luft war noch rußgeschwängerter, Fuhrwerke, mit Waren aller Art hoch beladen, verstopften die breiten Straßen, an deren Rand Schienenarbeiten stattfanden. Bekam Feuerland einen eigenen Bahnhof?, rätselte Jo. Viel Zeit, sich solche Gedanken zu machen, blieb ihr jedoch nicht, und es
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