Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Tiefpunkt. Der Verein, den sie mit so viel Enthusiasmus gegründet hatte, ging ihr auf die Nerven. Immer mehr Grüppchen bildeten sich, und jedes wollte den Verein für eigene Zwecke nutzen. Manchmal hatte Isabelle das Gefühl, dass Irene und sie und höchstens noch Luise Karrer die einzig wahren Velozipedistinnen waren.
Zur Enttäuschung über den Damenverein gesellte sich ihre Unzufriedenheit mit ihrer Lebenssituation: Wo war die vielgepriesene Freiheit, die sie sich durch die »Verlobung« mit Adrian versprochen hatte?
Sicher, die erste Zeit war sehr angenehm gewesen. Nachdem Adrian und sie sich in der Öffentlichkeit als Paar zu erkennen gegeben hatten, hatten ihre Eltern sie erst einmal in Ruhe gelassen. Sie hatte tun und lassen können, was sie wollte – unter anderem den Veloverein für Damen gründen.
Doch inzwischen sah die Sache anders aus. Nach fast drei Jahren Verlobungszeit und zwei verschobenen Hochzeitsterminen – einmal war sie tatsächlich krank gewesen, beim zweiten Mal hatte es im Unternehmen von Adrians Vater massive Probleme mit streikenden Arbeitern gegeben – übte ihr Vater inzwischen großen Druck auf sie aus. Er wollte die Verbindung zur Großindustriellenfamilie Neumann endlich offiziell besiegelt sehen.
Auch Adrian fühlte sich zunehmend unwohl mit ihrem Arrangement. Er wollte eigene Wege gehen, nicht eingeengt werden durch die ständige Anwesenheit seiner »Verlobten«. Immer öfter debattierten sie darüber, wie sie ihren Eltern ein endgültiges »Aus« erklären konnten. Auf einen Nenner kamen sie dabei nicht, denn sowohl Adrian als auch Isabelle fürchteten zu sehr den Zorn ihrer Väter.
»Und dann wäre noch zu klären, ob es neben dem großen Rennen separate Zweierrennen geben soll? Wir wissen alle, dass diese beim Publikum sehr beliebt sind. Aber überladen wir das Tagesprogramm damit nicht?« Wieder war es Irene, die diese Frage in den Raum warf.
Luise Karrer, eine der älteren Velofahrerinnen – und eine der engagiertesten –, antwortete: »Vielleicht wäre es im Hinblick auf eine wohlwollende Presse sinnvoll, dem Publikum etwas so Spektakuläres wie die Zweierrennen zu bieten. Außerdem hätte ich große Lust, Isabelle dabei zu schlagen.«
Isabelle und ein paar andere lachten. Die sportliche Rivalität zwischen Luise und ihr war allen wohlbekannt.
»Ich würde dich auch gern schlagen. Aber am Ende schreiben die Zeitungen nur wieder, wir wilden Xanthippen hätten uns im völlig unweiblichen Zweikampf bekriegt«, sagte Isabelle seufzend. »Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir uns an den Gedanken gewöhnen, es niemals allen recht machen zu können.« Eine beiläufige Handbewegung begleitete ihre Aussage, woraufhin sie zustimmendes Gemurmel aus der einen Ecke und ablehnendes von der anderen Seite bekam.
»Wir müssen für die Rechte der Frauen kämpfen, sonst bleiben wir immer unfrei!«, sagte Gertrude, eine hagere Lehrerin mit mürrischer Miene, und erntete dafür noch mürrischere Blicke.
»Aber ich fühle mich gar nicht unfrei«, ertönte eine rauchige Stimme. »Vielleicht sollten wir den Renntag vor allem dafür nutzen, unseren Sport auf die bestmögliche Art zu repräsentieren?« Fadi Nandou, eine wunderschöne Perserin, gehörte am Berliner Theater zu den Größten ihres Fachs. Ihre Verehrer verfolgten sie teilweise bis vor das Portal des Velovereins, immer wieder kam es vor, dass riesige Blumengebinde für die schöne Schauspielerin abgegeben wurden. Wie sie den Weg in den 1. Berliner Veloverein für Damen gefunden hatte, war den meisten anderen Mitgliedern noch immer schleierhaft. Nur selten sah man Fadi ein Velo besteigen – Isabelle nahm jedoch an, dass sich die Perserin außerhalb des Vereins gern und häufig mit der Ausübung dieses außergewöhnlichen Sports brüstete. Auch das war ein Motiv, Velo zu fahren!
»Man muss den Leuten etwas bieten. Brot und Spiele, hieß es nicht so schon bei den alten Römern? Ich könnte unseren Zuschauern etwas bieten …« Fadis mandelbraune Augen schauten bestimmend in die Runde. Sie war so sehr daran gewöhnt, ihren Willen durchzusetzen, dass sie Widerworte von vornherein ausschloss.
Isabelle, der das eitle Getue der Schauspielerin schon lange auf die Nerven ging, sagte spöttisch: »Und wie sollen wir das deiner Ansicht nach anstellen? Sollen wir uns als Romeo und Julia verkleiden und ein Theaterstück auf Fahrrädern aufführen?«
»Eine attraktivere Bekleidung wäre in der Tat kein Fehler«, erwiderte
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