Solang die Welt noch schläft (German Edition)
März 1895. Dazwischen lagen fünfundsechzig Jahre. Warum hatten es nicht mehr sein dürfen?
Traurig wischte Josefine gelben Blütenstaub von dem schmucklosen Holzkreuz. Seltsam, dass niemand Frieda je mit »Frau Koslowski« angesprochen hatte. Für alle in der Straße war sie immer nur Frieda gewesen. Frieda, die Rotwein statt Bier trank und jeden Tag die Zeitung las. Frieda, an deren Küchenwand kein Kalender mit frommen Sprüchen hing, sondern eine Weltkarte. Meyers Weltatlas lag auf dem Tisch daneben. Frieda, die ihre Steckenpferde hegte wie andere ihre Brieftauben. Und deren Katze Mäusle hieß.
Im Sommer hatte sie für die Kinder in der Straße immer ein Glas Buttermilch parat, die Flasche gekühlt in einem Wassereimer, der unter ihrem Gartentisch stand. Im Winter kochte sie Karamellen, und jeder, der bei Frieda vorbeikam, durfte die süßen Köstlichkeiten probieren. Bei Frieda hatte man sich stets ausweinen können. Und gleichzeitig konnte sie sich mit einem freuen, wenn es Grund zur Freude gab. Nicht wie die Eltern, die immer alles nüchtern betrachteten, in deren Leben kein Platz für »Dummheiten« war. Frieda liebte Dummheiten. Und die dazugehörenden Menschen.
Plötzlich war alles zu viel für Josefine. Sie sank neben Friedas Grab auf den noch kalten Boden.
Sie hatte nicht geweint, als ihr Bruder starb. Sie hatte sterben wollen, tot sein wie Felix, das schon! Aber keine einzige Träne hatte ihre Wimpern benetzt.
Der Gedanke an den zu Schrott gefahrenen Rover, die Einlieferung in das Frauengefängnis Barnimstraße, die Lebensbedingungen dort – oft war ihr nach Weinen zumute gewesen. Aber nie war eine Träne ihre Wangen hinuntergelaufen.
Doch jetzt brannten ihre Augen, ihr Hals war wie zugeschnürt, ihr Rücken schmerzhaft verkrampft. Und dann tropfte eine Träne aus ihrem Augenwinkel, und noch eine. Es war ein fremdes, nicht unangenehmes Gefühl. Immer mehr Tränen sammelten sich in ihren Mundwinkeln, salzig, fast harzig. Eine Welle von Abschiedsschmerz und Traurigkeit durchflutete Josefine, und sie ließ ihren Tränen zum ersten Mal freien Lauf.
Später hätte sie nicht sagen können, wie lange sie so dasaß. Die Sonne verzog sich hinter ein paar dünne Wolkenschleier, der Boden unter ihr war kalt, das alte Gras des Vorjahres spröde und hart. Doch vor lauter Weinen war Josefine schließlich so erschöpft, dass sie sich nicht vorstellen konnte, jemals wieder aufzustehen.
Ihr altes Leben war zu Ende. Mit Friedas Tod war die letzte Brücke zu ihrer Vergangenheit abgebrochen.
Mit seltsam ruhiger Hand strich sie über das Kreuz, ließ ihre Hand darauf liegen.
Nun würde sie nie mehr erfahren, welche Pläne Frieda für sie gehabt hatte.
Doch noch während ihre rechte Hand auf dem rau gehobelten Holz lag, war ihr, als fließe neue Kraft durch sie hindurch.
Es war müßig, darüber nachzudenken, was sie alles verloren hatte. Sie war frei! Hatte ihre Schuld verbüßt, und ihre finanzielle Schuld würde sie auch noch abtragen. Sie war eine junge Frau von einundzwanzig Jahren, die eine zweite Chance bekam. Ein zweites Leben. Ein neues Leben. Eins, in dem alles möglich war. Eins, in dem sie selbst Pläne schmieden musste, statt sich auf die Pläne anderer zu verlassen. Eins, in dem sie sich nichts mehr gefallen ließ. Eins, in dem sie selbst die Regeln aufstellte.
Natürlich würde nun, da Frieda gestorben war, alles beschwerlicher werden. Sie würde eine Arbeit in der Schuhfabrik annehmen und auch dort schlafen müssen. Sie würde für ihre Unterkunft zahlen müssen, und bestimmt würde sich der Fabrikbesitzer seine »Wohltätigkeit« bestens bezahlen lassen!
Aber dieser Zustand würde nur ein vorübergehender sein. Nichts und niemand würde sie daran hindern, ihre Wünsche und Träume in die Tat umzusetzen. Nur würde sie es ohne Friedas Hilfe tun, ohne ihren Beistand. Aber noch immer mit ihrem Segen! Die alte Freundin hatte stets an sie geglaubt, nun lag es an ihr, Josefine, sich dieses Vertrauens würdig zu erweisen.
Noch ein wenig unsicher rappelte sich Jo auf.
»Ich lebe noch!«, murmelte sie mit leiser, aber fester Stimme vor sich hin.
Wann und wo hatte sie diesen Satz schon einmal gesagt?
18. Kapitel
Nachdem alle Tränen getrocknet waren, machte sich Josefine auf den Weg in Richtung Feuerland. Das Geld, das sie im Gefängnis bekommen hatte, reichte nicht für eine weitere Fahrt mit der Bahn, doch die Luft war noch immer rosig und mild, und der lange Marsch tat Josefine gut. Gierig
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