Solang die Welt noch schläft (German Edition)
schaute sich Josefine um. Der Schlafsaal, der unter dem Dach des Firmengebäudes lag, sah nicht viel anders aus als der, in dem sie die letzten dreieinhalb Jahre verbracht hatte. Es roch sogar wie in der Barnimstraße. Nach ungewaschenen Leibern. Nach Schimmel und schlecht trocknender Wäsche, Resignation und Ermüdung.
Probeweise ließ Jo sich auf dem Bett nieder. Die Matratze war dünn und so durchgelegen, dass sie die Bretter darunter spürte. Vom Regen in die Traufe – besser konnte ein Sprichwort nicht passen. Unfreiwillig musste Jo lachen, woraufhin die Kontoristin sie mit einem skeptischen Blick bedachte.
»Und das hier ist unsere Gemeinschaftsküche«, sagte die Frau und trat in einen zweiten, wesentlich kleineren Raum. »Wer sie wann benutzt, klären die Mieterinnen untereinander. Die monatliche Benutzungsgebühr beträgt eine Mark, dafür wird das Holz für den Ofen bereitgestellt. Wasser müsst ihr selbst im Hof holen. Wie die Betten- und die Wäschemiete wird auch die Küchenbenutzung von deinem Lohn abgezogen.«
Die Wände waren grau, ein uralter, rußgeschwärzter Herd prangte in der Mitte. Daneben war eine Spüle, ebenfalls steinalt und voller Macken, dafür jedoch einigermaßen sauber. Die Wand neben dem Herd wurde von einem hölzernen Schrank mit vielen kleinen Fächern eingenommen. Vor den Fächern waren Gitter angebracht, die Josefine an einen Hühnerkäfig erinnerten. Sie stieß einen leisen Seufzer aus.
Mit spitzen Fingern, als habe sie etwas Unappetitliches vor sich, zeigte die Kontoristin auf den Schrank. »Die Fächer sind durchnummeriert, zu jedem Bett gehört ein Fach. Dort können unsere Mieterinnen ihre Lebensmittel verstauen. Es ist strengstens verboten, Lebensmittel im Schlafsaal aufzubewahren! Wer dabei erwischt wird, kann sofort sein Bündel packen und gehen.«
Josefine runzelte die Stirn. »Aber das Fach ist winzig, da passt ja nicht einmal ein Laib Brot hinein. Und ein Vorlegeschloss sehe ich auch nicht, für Langfinger ist das doch geradezu eine Einladung.« Ein gutes Stück Wurst oder ein Glas Marmelade würden dort unverschlossen nicht lange liegen.
»Das hier ist kein Grandhotel«, erwiderte die Kontoristin scharf. »Wenn es dir nicht passt, kannst du gleich wieder gehen, es gibt genügend junge Frauen, die eine solch sichere und saubere Schlafstatt dankbar annehmen. Und eine so gute Arbeit wie die in Herrn Strähles Fabrik musst du auch lange suchen!« Die Frau schaute Josefine ärgerlich an.
Beschwichtigend hob Jo beide Hände, dann hörte sie sich eine weitere Litanei von Verboten und Regeln an.
Zu Josefines Unmut wurde sie sogleich in die Spätschicht eingeteilt, die von zwölf Uhr mittags bis zehn Uhr am Abend ging. Eigentlich hatte sie an einem der nächsten Abende den Veloverein für Damen besuchen wollen, aber das konnte sie nun vergessen. Sie würde bis zum Samstag warten müssen, eine halbe Ewigkeit! Wenigstens verdiente sie so vom ersten Tag an Geld, tröstete sich Jo.
Die Kontoristin übergab sie an eine Vorarbeiterin, diese führte Josefine an einen Tisch, auf dem in einer langen Reihe Stanzmaschinen standen. Jo musste aus einem Karton vorgeschnittene Ledersohlen nehmen und diese am Rand entlang einstanzen, so dass das Leder mit kleinen Löchern perforiert wurde. Dabei galt es, auf einen gleichmäßigen Abstand zu achten. An dieser Naht entlang würde später der eigentliche Schuh an der Sohle befestigt werden.
Die Arbeit war eintönig und beschwerlich. Die Stanzmaschine ließ sich nur schwer bewegen. Als Josefine bei der Vorarbeiterin anfragte, ob man sie nicht mit ein paar Tropfen Öl gängiger machen konnte, verneinte diese: Das Öl würde eventuell das Leder beschmutzen. Deshalb galt es, die Stanze mit Kraft nach unten zu drücken.
Obwohl Jo an schwere Arbeit gewöhnt war, begannen ihre Handgelenke nach der ersten Stunde zu schmerzen. Zur selben Zeit setzte die Langeweile ein. Immer wieder schweifte ihr Blick für einen kurzen Moment von ihrer Arbeit ab.
Die Fabrik war einigermaßen hell und sauber, auch war es nicht über Gebühr laut, dafür hing ein scharfer, fast beißender Geruch in der Luft. Im vorderen Teil lagen riesige Berge von Lederhäuten, von ihnen ging der Gestank aus. Diese Häute wurden von mehreren Frauen in Bottiche mit dunkler, übelriechender Flüssigkeit getaucht und danach an langen Eisenstangen zum Trocknen aufgehängt. Von dort nahmen andere Frauen das getrocknete Leder wieder herunter, danach wurden die Stücke mit kleinen
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