Solang die Welt noch schläft (German Edition)
interessierte sie auch nicht besonders.
Wo sie auch anklopfte, wen sie auch fragte – überall bekam sie dieselbe Antwort. Nein, Arbeit als Mechaniker habe man für sie nicht. Vielmehr verfüge man über fähige Männer, die Reparatur- und Wartungsarbeiten verrichteten. Die Blicke, die sie von den Pförtnern, Vorarbeitern oder den Fabrikbesitzern selbst erntete, waren ihr altbekannt: misstrauisch, ablehnend, herablassend. Doch Josefine war weit davon entfernt, den Mut zu verlieren. Sollten die Männer ihre alten Vorurteile ruhig weiter pflegen. Sie brauchte nur einen , der den Versuch mit ihr wagte. Nur einen , der über seinen Schatten sprang und eine Frau als Mechaniker einstellte. Einen wie Gerd Melchior. Und wenn sie Hunderte von Fabriken würde abklappern müssen – irgendwann würde sie einen dieser Art finden.
Nach einem langen Marsch durch die Stadt und einem Besuch an Friedas Grab stand Jo am Samstagmittag endlich vor dem Eingang des 1. Berliner Velozipeden-Vereins für Herren. Ein kleineres Schild wies darauf hin, dass hier auch der Veloverein für Damen beherbergt war. Sie war also richtig. Mit klopfendem Herzen trat Jo durch das Portal und erblickte als Erstes das weitläufige Oval der Rennbahn. Obwohl es leicht nieselte, drehten drei junge Burschen ihre Runden. Neidisch schaute Jo ihnen dabei zu. Den Oberkörper über den Lenker gebeugt, die Beine eng ans Rad geschmiegt, flogen sie so schnell an ihr vorbei, dass sie kaum ihren Augen trauen konnte. Dass eine solche Geschwindigkeit auf einem Velo möglich war, hätte sie nie gedacht. Diese Velos schienen leichter und schmaler zu sein als jene, die Josefine kannte. Und wie leise sie waren! Außer einem leichten Surren war kein Fahrgeräusch zu hören, was Josefine nach näherer Betrachtung der Fahrbahn jedoch nicht weiter wunderte: Der Belag war so glatt wie ein fein gehobeltes Stück Holz.
Jedes Mal wenn die Fahrer an ihr vorbeiflitzten, wuchs ihre Sehnsucht. Der Fahrtwind. Das Gefühl, fliegen zu können wie ein Vogel. Die Freiheit, die Füße vom Boden hochzunehmen und nicht umzufallen. Wie sehr sehnte sie sich danach, all das wieder selbst zu erfahren! Es hätte nicht viel gefehlt und Josefine hätte einen der Burschen vom Rad gerissen und sich selbst hinaufgeschwungen.
Nach einer guten halben Stunde riss sie sich schließlich von der Bande, die die Rennbahn vom Zuschauerbereich trennte, los. Ihre Haare ringelten sich durch die feuchte Luft, ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. Sie folgte dem Schild mit der Aufschrift »Vereinsräume«. Falls jemand sie fragen sollte, was sie hier zu suchen hatte, würde sie Isabelles Namen erwähnen, hatte sie sich vorgenommen. Doch als sie eintrat, nahm niemand von ihr Notiz.
Drinnen erwartete sie eine Art Schankraum, dekoriert mit Trophäen und Plakaten rund um den Radsport. Es war warm und es duftete nach frisch aufgebrühtem Kaffee und heißer Suppe. Hinter der Theke rannte ein junges Mädchen kopflos hin und her, sie schien zehn Dinge auf einmal zu tun. Ein gutes Dutzend Männer saßen an mehreren Tischen, unterhielten sich angeregt, tranken Bier oder blätterten in Radsportzeitungen. Das sollte ein Vereinsheim sein? Josefine erschien es eher wie eine Gaststätte! Ihr Blick fiel auf ein großes Plakat an der Wand, auf dem Werbung für Sportlerkleidung gemacht wurde. »Sport-Salon Anwander« stand in großen Lettern darauf, und »Spezialgeschäft ersten Ranges für die vollständige Bekleidung und Ausrüstung der Radfahrer«. Darunter waren die Waren aufgelistet, die der Sport-Salon vertrieb: »Englische Sweater, aparte französische Mützen, feinste bayerische Sportlodenjacken, Radfahrerstrümpfe in Seide und Wolle, Hosenklammern, Ausrüstungsspezialitäten für Touristen und Radfahrer«. So viele spezielle Kleidungsstücke für Radfahrer gab es inzwischen? Reichten heutzutage eine Hose, ein Kittel und ein paar feste Schuhe zum Velofahren nicht mehr aus?, fragte sich Josefine verwundert. Dem eleganten Erscheinungsbild der anwesenden Radfahrer nach zu urteilen, verzeichneten Läden wie dieser Sport-Salon regen Zulauf.
Einer der Herren schaute jetzt auf und fragte nicht gerade freundlich: »Haben Sie sich verlaufen, junge Dame?«, woraufhin sich etliche Augenpaare auf sie hefteten.
»Ich suche den Veloverein für Damen«, murmelte Jo schüchtern.
»Die Grazien sind im Hinterzimmer. Und das liegt, wie der Name schon sagt, hinten.« Der Mann zeigte mit dem Daumen zur Tür hinaus. Lachen ertönte, als
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