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Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Titel: Solang die Welt noch schläft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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sog sie die verschiedenen Aromen der Stadt ein: Der Rauch, der aus vereinzelten Kaminen aufstieg. Die Essensgerüche, die von den Buden der Straßenhändler aufstiegen, die gebratene Würste, gebrannte Mandeln und Räucherfisch anboten. Der Geruch des brackigen Spreewassers, das algengrün an die schmutzigen Ufer klatschte. Der muffige Gestank, der aus schlecht verlegter Kanalisation emporstieg. Berlin. Ihre Stadt. Ihr altes, neues Zuhause. Kein vergitterter Bunker am Rand des Volksparks mehr.
    Freudig stellte Josefine fest, dass sie sich dank ihrer früheren Velofahrten noch immer recht gut auskannte, und das, obwohl überall gebaut wurde. Sie nahm hier eine Abkürzung, wählte dafür anderswo ein besonders schönes Wegstück, teilweise spazierte sie auch einfach entlang der Strecke, die die Stadtbahn nahm. Auf diese Art, so schätzte sie, würde sie in zwei Stunden, also am frühen Nachmittag, in der Schuhsohlenfabrik ankommen – rechtzeitig genug, um vor dem Abend ihr neues Domizil zu beziehen. Mit ein bisschen Glück konnte sie gleich morgen ihre neue Arbeit beginnen – und somit Geld verdienen.
    Nun, da ihre Sinne wieder wach waren, sah Josefine plötzlich überall Velofahrer. Junge Burschen in eng geschnittenen Radfahrerhosen. Ältere Herren, die eine Hand am Lenker hatten und mit der anderen ihren Zylinder festhielten. Männer, die es eilig hatten und sich auf gefährliche Weise zwischen den Fuhrwerken hindurchschlängelten. Und solche, die allem Anschein nach mehr Zeit hatten und gemächlich vor sich hin rollten. Josefine staunte. Vor ihrer Zeit hinter Gittern waren Radfahrer eine Besonderheit gewesen. Nun jedoch schienen sie zum Straßenbild zu gehören wie die Bahn, die vielen Fuhrwerke, Passanten mit Leiterwagen und Fußgänger ohne Anhang! Wie konnte das sein? Einst hatten sich nur reiche Herren wie Moritz Herrenhus ein Veloziped leisten können – waren die Gefährte auf einmal für so viel Menschen erschwinglich? Falls ja, würde sie sich in absehbarer Zeit vielleicht auch ein Velo kaufen können! Ein eigenes Velo – ihr größter Traum … Der Gedanke gab Josefine weiteren Auftrieb, ihr Schritt beschleunigte sich. Was ihr Hochgefühl ein wenig trübte, war jedoch die Tatsache, dass es nur Männer waren, die sie fahren sah.
    Vor ihrem geistigen Auge sah sie plötzlich sich selbst vor sich, wie sie als junges Mädchen in den Kleidungsstücken ihres Vaters durch Berlin gefahren war. Immer auf der Hut, nicht erkannt zu werden. Hatte sich in dieser Hinsicht noch nichts zum Besseren gewendet? Wurden Frauen immer noch so angefeindet?
    Am Pariser Platz angekommen, knurrte Josefines Magen so laut, dass sie beschloss, ihr letztes Geld in eine Wurststulle zu investieren. Sie wollte gerade herzhaft hineinbeißen, als ihr Blick von einem Plakat gefangen genommen wurde, das an einem Baum hing: Es zeigte eine lächelnde junge Dame, die in Rock und wehender Bluse auf einem Veloziped fuhr. Ein weißer Schal wehte hinter ihr im Fahrtwind. Unter der stilisierten Zeichnung stand in großen geschwungenen Lettern:

    Darunter wurden in kleineren Buchstaben Veranstaltungstermin und -ort genannt. Das Rennen sollte in knapp zwei Wochen stattfinden.
    Wie elektrisiert schaute Josefine auf die Ankündigung. Es gab ihn tatsächlich, den Veloverein für Frauen! Und er machte Werbung für ein Rennen. Unfassbar.
    Das musste der Verein sein, den Clara gerade erwähnt hatte und der von Isabelle gegründet worden war. Und ausgerechnet hier und jetzt sah sie dieses Plakat … Jo schüttelte fassungslos den Kopf. Das war ja geradezu schicksalhaft!
    Vergessen war ihr Heißhunger, achtlos stopfte sie die Wurstsemmel in ihre Tasche. Dann schaute sie sich um. Als gerade niemand hersah, löste sie das Plakat vom Baum, faltete es zusammen und steckte es ebenfalls ein.
    »Das Bett mit der Nummer sieben ist noch frei«, sagte die hagere Frau im grauen Kostüm. Als sich Josefine beim Portier der Schuhsohlenfabrik Strähle gemeldet hatte, hatte dieser die Kontoristin gerufen. Auf Josefines Frage nach Arbeit und Logis wies sie Jo ohne weiteren Kommentar an, ihr zu folgen.
    »Bettwäsche stellen wir gern bereit, die Leihgebühr beträgt fünfzig Pfennig pro Monat. Wenn du sie gewaschen haben möchtest, kostet das ebenfalls fünfzig Pfennig. Mehr als einmal im Monat gibt’s diesen Wäschedienst jedoch nicht. Benötigst du Bettwäsche?«
    Jo nickte, und die Graugekleidete machte sich in ihrer Kladde eine Notiz.
    Mit einem bangen Gefühl

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