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Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Titel: Solang die Welt noch schläft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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was ihm einen giftigen Blick seiner spindeldürren Frau einbrachte, die neben ihm saß. Die Tochter, die das Rennen mitgefahren, aber als eine der Letzten ins Ziel gekommen war, hockte zusammengesunken zwischen ihren Eltern. Josefine gegenüber saßen der Zahnarzt von Moritz Herrenhus und dessen Gattin sowie ein Ingenieur, der irgendwie mit Herrenhus’ Fabrik verbandelt war. Und an der Schmalseite hatte sich einer der jungen Velozipedisten niedergelassen, deren Gespräch Josefine zuvor mit angehört hatte. Er war ein Freund von Adrian, wovon er sein Leben bestritt, war Josefine nicht klar. Vielleicht war er von Beruf Sohn, so wie Isabelle von Beruf Tochter war?
    Als die Reihe an sie kam, stellte sich Jo mit leicht zitternder Stimme als Isabelles Freundin vor, weitere Einzelheiten blieben ihr dadurch erspart, dass die Suppe aufgetragen wurde.
    Eine Zeitlang war nur leises Besteckklappern zu hören, doch nach und nach kam ein Tischgespräch in Gang, dem Josefine jedoch die meiste Zeit schweigend folgte. Was hätte sie auch erzählen sollen? Sie konnte weder vom Kauf eines neuen Landhauses in der Nähe von Potsdam berichten noch von der Einstellung eines neuen Chauffeurs. Die zunehmende Konkurrenz unter den Berliner Zeitungsblättern war ihr fremd. Und noch nie in ihrem Leben hatte sie solch einen quengelnden Ton angeschlagen wie die Journalistentochter, die ihren Vater vom dringend notwendigen Kauf eines neuen Velos für sie überzeugen wollte. Die Suppenteller wurden gerade abgetragen, als der Journalist sagte: »In Gottes Namen, dann kaufen wir dir eben ein neues Stahlross!«
    Triumphierend schaute das junge Mädchen in die Runde.
    »Zugegeben, das Damenrennen heute war ein kleiner Publikumsmagnet. Aber nur mit den Fliegerrennen, Sprinterrennen und den ganz großen Distanzrennen der Herren erregt man die Aufmerksamkeit der breiten Massen«, sagte der junge Radfahrer und fuchtelte wild mit seiner Gabel in der Luft herum, als wollte er so seine Aussage noch unterstreichen.
    »Ich stimme Ihnen zu«, sagte der Journalist, »aber ist es nicht beängstigend, dass nun auch schon im Sport ein gewisser … Gigantismus um sich greift? Wenn ich an diese Distanzrennen denke – unglaublich, welche Menschenschinderei damit einhergeht.«
    »Und was ist dagegen einzuwenden?«, erwiderte der Ingenieur. »Schon immer wollte der Mensch seine Grenzen austesten. Und der technische Fortschritt hilft ihm dabei. Er lässt sich sowieso nicht aufhalten, Gott sei Dank, möchte ich hinzufügen! Denn was wäre die Zivilisation ohne ein stetes Vorwärtsstreben? Ohne einen gewissen … nennen wir es ruhig Größenwahn wäre der Eiffelturm nie gebaut worden. Ohne den Glauben an die Faszination der Technik gäbe es keine Passagierdampfer, die uns in gar nicht allzu langer Zeit nach New York bringen. Ohne einen gewissen Pioniergeist in Sachen Fortschritt und Technik säßen wir vielleicht alle noch immer wie Affen auf dem Baum und äßen Blätter!«
    »Dann haben wir wirklich Grund, dem Fortschritt dankbar zu sein. Denn ohne ihn würden wir nicht in den Genuss dieses herrlichen Kalbsbratens kommen«, sagte Josefine, was die Achterrunde am Tisch mit einem Lachen quittierte. Froh, sich wenigstens einmal ins Gespräch eingebracht zu haben, widmete sich Josefine danach wieder ihrem Essen. Etwas so Köstliches hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie auf dem Teller gehabt! Glücklich nahm sie sich eine dritte Scheibe Braten von der Servierplatte.
    »Ungewöhnlich, dass eine junge Dame über einen solchen Appetit verfügt«, sagte der Radfahrer mit hochgezogenen Brauen zu ihr. »Die meisten picken aus Angst um ihre schlanke Taille nur wie ein Spatz in ihrem Essen herum.« Während er sprach, wanderten seine Augen anzüglich an Josefines Körper hinab.
    Sie lächelte ihn frostig an. »Ich habe keinen Appetit , sondern Hunger. Den hätten Sie auch, wenn Sie am heutigen Tag noch nichts gegessen hätten.«
    Die Tischrunde lachte erneut, in der Annahme, dass Josefine scherzte.
    Wenn ihr wüsstet, ging es ihr durch den Sinn. Obwohl sie sich gerade noch einen Kartoffelkloß auf den Teller gelegt hatte, war ihr Hals plötzlich wie zugeschnürt, ihr Hunger verflogen. Und wenn sie sich noch so mühte, sich bei diesem Tischgespräch wacker zu schlagen, und wenn sie sich noch so mühte, sich nicht einschüchtern zu lassen von all dem Gerede von Geld, Ruhm und Reichtum – das hier war nicht ihre Welt. Sie und diese Leute trennte nicht nur eine Tischbreite,

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