Solang die Welt noch schläft (German Edition)
sein soll.«
Er hielt ihr lächelnd sein Velo entgegen. »Wenn das so ist … Von mir aus kannst du gern als Erste die neue Gabel auf Herz und Nieren prüfen. Los, fahr eine Runde!«
Josefine schüttelte den Kopf. »Das ist sehr nett von dir, aber nein danke. Ich habe mir geschworen, nie mehr auf einem Velo zu sitzen, das nicht mir gehört.«
Adrian blinzelte verwirrt. Das Gespräch wurde immer skurriler. »Und warum das? Ich dachte, Velofahren ist deine große Leidenschaft?«
»Das stimmt. Trotzdem gehört das zu den Regeln, die ich für mich und mein neues Leben aufgestellt habe.«
»Aber … machst du es dir damit nicht unnötig schwer? Ich meine, vorhin hast du Isabelles Angebot zu fahren ausgeschlagen, und nun meines ebenfalls.« Mit jedem Satz, den Josefine sprach, erschien sie ihm rätselhafter – und gleichzeitig auch interessanter.
»Den eigenen Regeln folgen … das würde ich auch gern«, murmelte er vor sich hin, ohne dass es ihm bewusst war. Deshalb schrak er zusammen, als Josefine sagte: »Warum tust du es dann nicht?«
Adrian lachte traurig auf. Dann erzählte er von seiner Familie, davon, dass er der einzige Sohn war. Der Erbe! Derjenige, der das Imperium des Vaters später einmal weiterführen sollte. »Die Elektronischen Werke Berlin wachsen stetig an. Ganz Berlin und sein Umland gedeihen. Die fortschreitende Industrialisierung benötigt immer mehr Strom und Elektrizität, und wir sind die Nummer eins auf diesem Gebiet.«
»Aber?«, fragte Josefine gedehnt. Und in diesem einen Wort lag mehr Verständnis, als Adrian je in seinem Leben erfahren hatte.
»Aber das ist nun einmal nicht das, was ich möchte!«, brach es aus ihm heraus. »Auch meine große Leidenschaft ist das Velofahren. Allerdings sehe ich das Velo mit anderen Augen als die Damen und Herren da drinnen.« Er fuchtelte mit seiner rechten Hand in Richtung Vereinsheim. »In meinen Augen ist es viel zu genial, um bloß ein Spielzeug für wohlhabende Leute oder ein Sportgerät für diejenigen zu sein, die sich körperlich beweisen und mit anderen messen wollen.« Er schnaubte verächtlich wie ein überhitztes Pferd.
»Sprich weiter«, bat Josefine.
»In meinen Augen müssten dringend zwei Dinge geschehen: Erstens müsste man den Leuten klarmachen, dass es sich beim Velo um das beste, günstigste und einfachste Fortbewegungsmittel der ganzen Welt handelt. Und zweitens –« Er hielt unsicher inne, doch als er sah, wie gebannt Josefine an seinen Lippen hing, sprach er weiter. »Zweitens müsste man einen Weg finden, um das Velo günstiger herzustellen. Es müsste so preiswert zu erstehen sein, dass es sich auch die einfachen Leute leisten können.« Spontan ergriff er Josefines Hand. »Stell dir doch mal vor, welche Freiheit das Velo den Fabrikarbeitern, die von früh bis spät in lauten, stinkenden Hallen arbeiten, bringen würde! Oder den Mägden, die immerzu Laken auf dem Waschbrett schrubben und sonst etwas tun, damit es ihre Herrschaften angenehm haben. Hätten es diese fleißigen Menschen nicht wahrlich verdient, sich nach einem arbeitsamen Tag an der frischen Luft zu erholen und beim Velofahren neue Kräfte zu tanken?« Adrian holte tief Luft. Dann schaute er verwundert auf ihre rechte Hand, die er noch immer in der seinen hielt. Was tat er hier eigentlich? Da saß er mit einer fremden jungen Frau Hand in Hand und erzählte ihr Dinge, die er noch niemals einem Menschen erzählt hatte. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Beschämt ließ er Josefines Hand los.
»Aber Adrian!«, fuhr Josefine auf. Es war das erste Mal, dass sie ihn beim Namen nannte. »Was redest du denn da? Wenn jedermann würde Velo fahren können, würde das deinen Vereinskollegen den Spaß gründlich verderben!«
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass ihr affektierter Ton ironisch gemeint war.
Sie lachten laut und herzlich auf.
»Du hast die Frauen vergessen«, sagte Josefine, als sie sich wieder beruhigt hatten. Sie beugte sich näher zu ihm und sagte: »Das Velo würde nicht nur den Fabrikarbeitern guttun, sondern auch den Hausfrauen, die in schweren Körben mühselig Brot, Butter und Mehl vom Krämerladen nach Hause schleppen. Wie viel einfacher könnten sie die Waren auf einem Velo transportieren!«
Adrian nickte heftig. Er sah ihre strahlenden Augen und wusste, dass sich darin auch sein eigenes Strahlen spiegelte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Es müsste ein robustes Velo geben, mit großen Körben an der Seite, um
Weitere Kostenlose Bücher